Der US-Amerikaner Richie Beirach ist einer der großen Pianisten des zeitgenössischen Jazz. Vor kurzem hat er „Leaving“ veröffentlicht, ein grandioses Solo-Album, auf dem er über Standards improvisiert. Im Gespräch mit dieser Redaktion spricht er darüber und über seine Zusammenarbeit mit der Pianistin Regina Litvinova, mit der er im pfälzischen Heßheim lebt.
Mister Beirach, würden Sie sagen, dass Standards so etwas wie die Stammessprache der Jazz-Community sind, weil man einen Musiker damit einschätzen kann?
Richie Beirach: Dem stimme ich zu. Ich liebe es, Standards zu spielen. Wenn du jung bist, spielst du Standards, weil du dein Vokabular erlernen willst. Dann entdeckst du, was die Meister mit den Standards gemacht haben. Du lernst von Bill Evans, Herbie Hancock, Art Tatum und Bud Powell. Schließlich komponierst du deine eigenen Stücke und willst keine Standards mehr spielen. Aber als ich mein eigenes Vokabular entwickelt hatte, konnte ich Standards spielen und immer noch wie Richie Beirach klingen. Jeder hat das so gemacht. Und nun hast du verglichen: „Hast du Herbies Version von ’Round Midnight’ gehört? Und die von Bill Evans?“ Und jetzt , nachdem ich so viele eigene Stücke komponiert und gespielt habe, möchte ich wieder Standards spielen.
Warum?
Beirach: Weil ich so viel Eigenes einbringen kann. Ich liebe immer noch „Autumn Leaves“, weil ich so sehr damit zu kämpfen hatte, die richtigen Töne zu spielen, als ich 16 war. Wenn ich heute „Autumn Leaves“ spiele, bringe ich alles ein, was ich weiß: Zeitgenössische Musik, Reharmonisierungen, multiple Akkorde, Split voicings. Wichtig ist auch, wenn du einem Publikum Standards bietest, gibst du ihm eine Hilfestellung, einen Bezugsrahmen.
Was muss ein Standard haben, damit Sie ihn spielen?
Beirach: Eine große, ikonische Melodie, ein Ohrwurmthema. Jeder gute Standard hat in den ersten beiden Takten eine großartige Melodie. Und Standards haben tolle Akkordfolgen und eine interessante Struktur. „Alone Together“ hat eine ungewöhnlich Form, 14 Takte, zwölf und zwei. Und dann kommt die Bridge, der Mittelteil, er stammt von „Night In Tunesia“ (einem Bebop-Stück).
Könnten Sie beide in Worte fassen, was für Sie als Jazzmusiker essenziell ist?
Regina Litvinova: Wichtig ist, dass du mit Energie spielst, dass du auf dem höchstmöglichen Niveau improvisierst, mit guten Leuten Musik machst und darauf achtest, dass du dich weiterentwickelst, dich verbesserst und noch mehr Substanz bekommst.
Dynamisches Jazz-Duo
- Richie Beirach, geboren 1947 in New York, wurde 1973 als Pianist in der Band des Saxofonisten Dave Liebman bekannt, mit dem der bis heute über 50 Alben eingespielt hat. Beirach veröffentliche u.a. auf den Labels ECM und ACT. Von 2000 bis 2014 war er Professor für Jazzklavier an der Musikhochschule Leipzig. 2015 zog er nach Heßheim bei Frankenthal in eine Künstler-WG mit Regina Litvinova und dem dem 2021 verstorbenen Schlagzeuger Christian Scheuber. Vor kurzem ist Beirachs Solo-Album „Leaving“ mit Standard-Interpretationen auf Jazzline erschienen.
- Regina Litvinova, geboren 1979 in Moskau, studierte von 2001 bis 2006 Jazz-Piano an der Musikhochschule Mannheim, danach bei Richard Beirach in Leipzig. Seit 2003 spielte sie mit Christian Scheuber. Mit Beirach tritt sie im Duo auf. Konzerte sind beim Festival Jazz am Rhein am 16. September an der Ludwigshafener Rhein-Galerie geplant. Das Programm wird noch bekanntgegeben.
Energie scheint bei vielen deutschen Jazzmusikern keine so große Rolle zu spielen. Wie kommt das?
Litvinova: Das frage ich mich auch schon seit langem. Was ist daran schlecht, mit Druck und Energie zu spielen?
Beirach: Was läuft falsch im europäischem Jazz? Das ist die Frage. Es scheint so zu sein, dass vor allem viele – nicht alle – Bands, die für ECM aufnehmen, nicht diese Power haben. Ich sage nicht, dass sie schlecht sind, aber sie sind einfach anders. Sie wollen diese Energie nicht, sie mögen sie nicht. Sie haben diese Mentalität: „Halte dich zurück. Spiel nicht so laut.“
Aber es gibt schon Europäer, die mit Power spielen, denken Sie nur an Christof Lauer…
Litvinova: Aber solche Musiker sind rar.
Beirach: Wissen Sie, das war das Spezielle an Chris (Scheuber, der 2021 verstorbene Ludwigshafener Musiker, Anm.). Er war einer der großen Drummer. Er verstand, dass das Schlagzeug im Zentrum jeder Jazzband steht. Das ist eines der Elemente, die Jazz von Klassik unterscheiden: das Level an Energie, Lautstärke und Kraft, die große Schlagzeuger wie Chris, Jack DeJohnette, Adam Nussbaum oder Billy Hart einbringen – und, nicht zu vergessen, Geschmack. Das ist, was für mich großartigen Jazz ausmacht. Das ist es, wonach wir beide, Regina und ich, suchen. Und es geht nicht nur um Lautstärke. Ein schlechter lauter Drummer ist ein schlechter lauter Drummer. Er muss musikalisch sein.
Christian Scheuber war in dieser Hinsicht schon außergewöhnlich.
Beirach: Ja, er war der Einzige weit und breit. Bis auf Tobias Frohnhöfer, der fast wie ein Sohn für ihn war. Jetzt spiele ich mit Tobi im Trio, er hat sich zu einem Weltklasse-Drummer entwickelt. Ich habe ein Trio mit Tobi und dem Bassisten Tilman Oberbeck. Und Regina und ich haben ein Duo: Keyboards und akustisches Piano. Exzellent. Wir arbeiten gerade an einem Album, das nächstes Jahr veröffentlicht werden soll.
Wie funktioniert das Zusammenspiel zwischen Piano und Synthesizer?
Beirach: Es funktioniert um so vieles besser, als im Duo auf zwei Flügeln zu spielen. Das haben wir versucht, aber es gab einfach zu viel Gleichartiges.
Litvinova: Es war die gleiche Power.
Beirach: Wir spielen beide sehr ähnlich. Es war wie eine Verdopplung und nicht das Aufbauen von etwas Neuem. Als Regina anfing, auf Keyboards und Synthesizer zu spielen, war da diese Klarheit von unterschiedlichen Farben. Und: Sie kennt meine Art zu spielen, ich kenne ihre. So können wir uns voneinander fernhalten.
Was macht Ihrer Meinung nach die Qualität im Spiel von Regina aus?
Beirach: Ihr Rhythmusgefühl ist unglaublich ausgebildet. Ich habe ihr nie etwas über Rhythmus beigebracht. Das war schon da, als sie zu mir nach Leipzig kam. Sie besitzt ein sehr tiefes Empfinden für Swing. Sie kann sehr schöne Kompositionen schreiben. Sie hatte damals schon eine recht gute Technik, ich habe ihr noch ein paar Dinge gezeigt. Aber sie war schon eine vollständig entwickelte Musikerin. Ich habe ihr geholfen, sich selbst genauer zu finden. Das waren die Sachen, die mir bei ihr gefallen haben, als sie meine Studentin war. Jetzt ist sie meine Kollegin, und jetzt lerne ich viel von ihr.
Was haben Sie von ihr gelernt?
Beirach: Zum Beispiel, eine Sache auf verschiedene Weisen zu tun. Zum Beispiel: Wir spielen viele Stücke in c-Moll, eine großartige Tonart, etwa bei Stücken wie „Mr. PC“ oder „Softly As in A Morning Sunrise“. Was sie in c-Moll spielt, wie sie die Akkorde aufbaut, die Noten, die sie auswählt, diese speziellen Dinge höre ich sofort, das beeinflusst mich, und – am allerwichtigsten – es inspiriert mich. Deswegen mag ich es, mit ihr im Duo zu spielen.
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/kultur_artikel,-kultur-der-jazz-pianist-richie-beirach-ueber-sein-duo-projekt-_arid,2105266.html