Mannheim. Vor nicht allzu langer Zeit sah Gott immer deutlicher, dass die Erde auf eine Katastrophe zusteuerte. Da er die Erde besonders liebte, dachte er, am besten wäre es, wenn Jesus noch einmal auf die Erde käme, um sie vielleicht diesmal zu retten.
Nach demselben Verfahren orientierte er sich an den herrschenden Imperien auf Erden. Damals war es das Römische Reich gewesen und heute das westliche Weltimperium. Aber wohin sollte er ihn schicken?
Am besten nach Europa, woher viel Gutes und Böses der neuen Zeit gekommen war. Und Jesus sollte im Herzen Europas zur Welt kommen. Er legte seinen Finger auf den Atlas und traf den kleinen bayerischen Ort Türk, bei Marzoll, nicht weit von Bad Reichenhall nahe der österreichisch-bayerischen Grenze. „Meinetwegen hier“, sagte er, „Bethlehem war auch nicht größer.“
In einer verlassenen Scheune im tief verschneiten Bayern lag Jesus in einer Krippe, Maria und Josef standen bei ihm. Maria ärgerte sich über die Kälte und den penetranten Gestank vom nahen Schlachthof, Josef ertrug alles geduldig. Doch bald nervten Kälte und Gestank auch den kleinen Jesus und er wünschte mediterrane Düfte, Licht und Wärme. Maria lächelte gerührt.
Plötzlich erhellte sich die Scheune und wurde so warm, dass die meterhohen Schneemassen vom Dach hinunter rutschten. Der Raum duftete nach Olivenöl, Thymian und Basilikum. „Das kann er“, flüsterte Josef, und legte seinen Mantel auf einen Hocker. Es wurde ihm ziemlich warm.
Die Scheune strahlte so stark, dass ein armer Landstreicher aus der Ferne das Licht sah und tapfer durch den Schnee stapfend auf die Scheune zuging. Er schob vorsichtig die Tür auf und trat ein. „Grüß Gott“, rief er und kam näher. „Grüß dich“, erwiderte Jesus.
„Heilige Maria, Mutter Gottes! Das Baby spricht!“ „Ja, das kann er“, erwiderte Maria, nicht ahnend, dass die Anrede nicht sie persönlich meinte, sondern nur ein Ruf der Verwunderung war. Wäre der Mann aus Bayern gewesen, hätte er „Jessas Maria und Josef“ gerufen, aber er stammte aus Mainz und hatte lange in Hannover gelebt. „Ihr schaut auch ausländisch aus. Woher kommt ihr?“ „Vom Himmel“, antwortete Josef. „Ah! So, so!“, war das einzige, was der Landstreicher über die Zunge brachte.
Rafik Schami
- Der Autor: Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren und lebt seit 1971 in Deutschland, heute in der Pfalz. Er arbeitete anfangs in Fabriken, Kaufhäusern, Restaurants und auf Baustellen. 1979 promovierte er in Heidelberg (Chemie). Seit 2002 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der schönen Künste. Sein Werk wurde in 33 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet, etwa dem Hermann-Hesse-Preis, Nelly-Sachs-Preis, Preis „Gegen Vergessen - Für Demokratie“, Gustav-Heinemann-Friedenspreis und der Carl-Zuckmayer-Medaille.
- Die Werke: Es gibt rund 70 Werke von Schami, zuletzt sind beispielsweise erschienen: „Mein Sternzeichen ist der Regenbogen. Erzählungen“ (2021), „Die geheime Mission des Kardinals“ (2019), „Flucht aus Syrien - neue Heimat Deutschland?“ (2018) „Sophia oder Der Anfang aller Geschichten“ (2015) oder „Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte“ (2011).
- Der Nahostkonflikt: Schami hat sich als einst aus Syrien Geflüchteter immer auch intensiv mit Nahost beschäftigt. 2007 veröffentlichte er bereits das Buch „Mit fremden Augen: 11. September, Palästinakonflikt und die arabische Welt - ein Tagebuch“. 2021 erschien das Essay „Gegen die Gleichgültigkeit“, mit dem er aufzeigt, dass nicht Hass das Schlimmste ist, was man einem Menschen antun kann, sondern Gleichgültigkeit.
- Schamis aktueller Roman: „Wenn du erzählst, erblüht die Wüste“. Hanser Verlag. 480 Seiten, 26 Euro
„Habt ihr einen Schluck für mich?“ „Wasser, hier bitte!“, rief Josef und überreichte ihm seine Feldflasche. „Er will einen Schnaps“, erklärte Jesus und wandte sich dem Landstreicher zu, „trink, es ist Schnaps!“ Der Mann mit den zerzausten Haaren nahm einen Schluck. Er hustete, „Was ist denn das?“, fragte er und wischte seinen Mund mit seinem Ärmel. „Arak, sechzigprozentiger“, antwortete das Baby.
„Ihr sprecht eine merkwürdige Sprache, auch das Baby, und trotzdem verstehe ich euch. Was ist das für eine Sprache?“ Er versuchte, mit den Fremden gepflegtes Deutsch zu sprechen.
„Das ist Aramäisch, unsere Sprache. Aber wir sprechen alle Sprachen der Erde, und trotzdem will uns keiner verstehen“, antwortete Maria. Jesus nickte dazu.
„Ich will auch Armenisch sprechen“, sagte der Landstreicher. „Aramäisch, Aramäisch heißt sie, und ab jetzt kannst auch du das. Wie heißt du?“, sagte Jesus. „Ich? Georg, und ich war mal ein glücklicher Zimmermann, bis sich die Leute in den Beton verliebten.“ „Ach, ein Kollege“, sagte Josef freudig.
Georg, der Landstreicher, verstand alles und wunderte sich nur ein bisschen über den so anderen Klang.„Und weshalb seid ihr gekommen?“ „Jesus sollte die Erde retten“, antwortete Maria nicht ohne Stolz. „Ich wäre nur froh, wenn es bei dieser Mission ohne Kreuzigung geht“, sagte das Baby leise, als spräche es mit sich selbst.
* * *
Drei Ausländer stapften im Schnee. Kaspar, ein dunkelhäutiger Perser, seine Mutter war eine Afrikanerin, Melchior, ein Rumäne, seine Mutter war eine Italienerin, und Balthasar, ein Kurde aus Syrien, dessen Vorfahren aus China stammten.
Sie kamen aus Österreich bis zum neu errichteten Schlagbaum.
Ein Polizist winkte sie zu sich: „Na, feiert ihr Karneval?“ „Nein, nein“, erwiderte Melchior, „das sind unsere . . . Nationaltrachten . . . Alltagskleider der Sterndeuter.“ „Ach so, du bist also echt schwarz“, fragte der Polizist ungläubig, weil die drei sehr gutes Deutsch sprachen. Er rieb mit seiner Hand an Kaspars Gesicht, „echt wie Kohle“, sagte er, als er seine blanken Finger betrachtete, „und wohin des Weges, Brüder?“, seine Stimme triefte vor Ironie.
„Wir wollen zum König der Herrlichkeit gehen“, riefen die drei Könige im Chor, „er ist bereits geboren, und der Stern führt uns zu ihm.“ „Der Stern? Ach so? Seid ihr Journalisten?“, fragte er etwas unsicher. Die drei schüttelten den Kopf, „Wir sind die weisen Sterndeuter, im Volksmund manchmal Könige genannt.“ „Sonst noch was? Name!“ „Balthasar . . . Melchior … Kaspar“, riefen die Könige durcheinander. „Und wohin wollen die Herren?“
„Wir wollen zum König der Welten. Und dieser Stern da oben leitet uns den Weg“, rief Balthasar etwas ungeduldig und zeigte auf den Stern mit dem langen Schweif am dunklen Himmel. Der Polizist schaute nach oben und sah den sonderbaren Stern. „Mit einer Drohne auch noch“, flüsterte er. Die drei Könige verstanden nicht, wie ein erwachsener Mensch einen Stern für eine männliche Biene hält. „Pässe“, rief der Polizist.
Die Sterndeuter schauten einander verdutzt an. Denn sie hatten bis jetzt noch nie Pässe gebraucht. Melchior aber beruhigte sie. Er war ein hervorragender Zauberer. Im Nu überreichte er dem Polizisten drei Pässe. „Hier“, sagt er. Dieser blätterte in den Pässen herum, fand aber nirgends ein Visum. Er schaute die drei misstrauisch an, „Kommen Sie bitte mit, hier herein“, sagte er und dachte an seinen Kollegen Hans Ritter, der berühmt für seine Kreuzverhöre war, so berühmt, dass seine Kollegen ihn „Kreuzritter“ nannten.
* * *
„Mama“, rief Jesus besorgt, „ich höre Kreuz.“ „Mach dir keine Sorgen“, sagte Maria und streichelte ihm das Gesicht. Sie dachte, der Schrecken und der Schmerz von damals sitzen dem Jungen noch in den Knochen.
* * *
Das Kreuzverhör dauerte eine halbe Stunde, doch die Polizisten kamen nicht weiter. Weihrauch und Myrrhe ließen sie noch durchgehen, aber die Goldmünzen im Kästchen des dritten Fremden waren mehr als verdächtig.
Sie beschlossen, sich naiv zu stellen, und da sie sich an dieser Stelle der Grenze langweilten und die Fremden als willkommene Ablenkung sahen und sich die drei im Verhör mit verrückten, aber unterhaltsamen Antworten abschirmten, denen allerdings zu misstrauen war, wollten sie den drei Verdächtigen einfach nachgehen.
„Also, meine Herren, wir wünschen eine gute Reise zu Ihrem Herrn der Welten.“ „Danke“, antwortete Melchior.
„Endlich“, flüsterten Balthasar und Kaspar. Sie stapften durch den Schnee und warfen zwischendurch einen Blick zum Stern hinauf. Vier bewaffnete Polizisten folgten ihnen unauffällig bis zur Scheune.
* * *
Jesus freute sich und lachte den Königen entgegen. Der betrunkene Georg lallte auf Aramäisch: „Das ist ja Karneval!“ Die drei Könige knieten sich vor der Krippe nieder und streckten ihre Hände mit den Geschenken aus. Josef sammelte sie ein.
„Wie damals“, flüsterte Maria.
Die drei Könige sangen ihr Lied:
Wir kommen daher aus dem Morgenland,
wir kommen geführt von Gottes Hand.
Wir wünschen euch ein fröhliches Jahr:
Kaspar, Melchior und Balthasar.
Es führt uns der Stern zur Krippe hin,
wir grüßen dich Jesus mit frommem Sinn.
Wir bringen dir unsre Gaben dar:
Weihrauch, Myrrhe und Gold fürwahr.
* * *
Die alte Tür der Scheune krachte zu Boden, vier Polizisten mit gezückten Waffen stürmten herein. „Keine Bewegung“, rief der Kreuzverhörer und wusste nicht, wohin er seine Pistole richten sollte.
„Nein“, schrie Jesus, „das fängt ja schrecklich an. Ich will nicht mehr!“
Urplötzlich war es dunkel in der Scheune und eiskalt und es stank penetrant nach Schlachthof. Ein Polizist schaltete schnell seinen starken Handscheinwerfer ein und alle staunten über den einsamen Landstreicher, der mitten in der leeren Scheune hockte und glücklich vor sich hin lallte.
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