Hysterie und Fatalismus erscheinen wie zwei Seiten einer Medaille, wenn Unerwartetes und Unerklärliches über die Menschen hereinbricht. Als Vulkanasche einst Pompeji unter sich begrub, versuchten viele, in hektischer Flucht dem Schicksal zu entrinnen, während andere in letzter Lust sich noch einmal vergnügten, zumindest legen Ausgrabungen diesen Schluss nahe. Was also tun, wenn der Weltuntergang naht, weil ein Komet mit unserem Planet Erde binnen weniger Tage kollidieren wird?
„Zusammenstoß“ nannte Kurt Schwitters, der Maler, Werbegrafiker und Dadaismus-Universalkünstler, in den 20-er Jahren sein skurriles Opernlibretto, das jetzt am Theater Heidelberg in der Auftragskomposition von Ludger Vollmer uraufgeführt wurde. Sozusagen die erste und einzige Dada-Oper der Musikgeschichte, was immerhin ein Alleinstellungsmerkmal bedeutet. Das hat entsprechend an nichts gespart, wenn die Sparten auf der Bühne „zusammenstoßen“ und in der Regie von Christian Brey durcheinander gewürfelt werden, um eine überbordend spielfreudige Revue zu präsentieren.
Die Szene lebt, und wie! Das von Schwitters absichtsvoll ins Groteske verlegte Sujet wird ebenso „verrückt“ abgebildet. Eine wilde Folge spielt sich vor dem Gestirn im Bühnenhintergrund mit einem leuchtenden Etwas ab. Hatte der Heidelberger Astronom Max Wolf um 1907 das Auftauchen des Halley’schen Kometen vorausgesagt und eine weltweite Panik ausgelöst, so glauben hier im Spiel die der Wissenschaft hörigen Bürger den Rechnungen des Astronomen Virmula, der ganz in Weiß wie ein Hohepriester auftritt (James Homann). Doch später stellen sich die Sinus-Berechnungen als Asinus-Eselei heraus. Mit einer Vielzahl an Figuren, zwischen skurril und absurd ausstaffiert von Anette Hachmann (Bühne und Kostüme), werden Lust und Leid am Weltuntergang im quirligen Berlin vor 100 Jahren einschließlich Sekten-Versprechen illustriert.
Ludger Vollmer bietet viel mehr als plakativ-griffige Bühnenmusik
Doch die treibende Kraft als eigentlicher Pluspunkt ist die Musik von Ludger Vollmer. Die ist grell geschminkt und haut mit harter Metrik rein, um zwischendurch mit soften Elementen bis hin zum Swing sowie vielen Gassenhauer-Zutaten und Zitaten den Plot aufzupimpen. Eine Collage? Viel mehr als das, nämlich die plakativ-griffige Bühnenmusik eines ebenso versierten wie fantasievollen Komponisten, der sich in Schwitters’ Welt einfühlt. Das bemerkte auch das sehr gut aufgelegte Orchester, das unter der animierenden Leitung von Dietger Holm ein bunt instrumentiertes Werk aus der Taufe hob.
Am Ende der zehn Szenen gibt’s noch mal was zu gucken, wenn der „Oberordnungskommissar“ („Franko Klisovic) hoch zu Giraffe letztmals die Reihen ordnet. In weiteren Rollen profilieren sich Amira Elmadfa, Nicole Averkamp, Johanna Greulich, Jonah Moritz Quast, Raphael Rubino, André Kuntze, Elisabeth Auer, Leon Maria Spiegelberg, Henriette Blumenau, Hendrik Richter, Jonathan Fiebig, Patricia Schäfer und viele andere mehr, plus Virginie Déjos (Chor) und Iván Pérez (Choreografie). Ulrike Schumann und Jürgen Popig sind für die Dramaturgie zuständig, Ralph Schanz fürs Licht.
Das Premierenpublikum dankte mit langem Applaus unterhalb der Enthusiasmus-Schwelle.
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