Deutsche Gewinner sind auf den 1946 gegründeten Filmfestspielen von Cannes rar gesät. Seitdem der Hauptpreis, ab 1955 Goldene Palme genannt, vergeben wird, gingen nur zwei heimische Filmschaffende als Sieger hervor: 1979 Volker Schlöndorff mit „Die Blechtrommel“ – ex aequo mit Francis Ford Coppola („Apokalypse Now“) – und 1984 Wim Wenders mit „Paris, Texas“. Beim zweitwichtigsten Preis, dem Großen Preis der Jury, gab es 2025 für Deutschland eine Premiere. Gemeinsam mit Óliver Laxe („Sirat“) wurde Mascha Schilinski („Die Tochter“, 2017) für ihre zweite Kinoarbeit „In die Sonne schauen“ geehrt. Ganz zu Recht und hochverdient.
Ein Festivalfilm – an der Croisette vom Publikum entsprechend gefeiert – par excellence, Kopfkino voller großer Emotionen. Mit einem abgelegenen Vierkanthof im Dorf Neulingen in Sachsen-Anhalt als zentralem Spielort. Ein wuchtiges, finsteres Gebäude, das die Regisseurin – und Co-Autorin Louise Peter – nach eigener Aussage maßgeblich zu ihrem Skript beeinflusst hat: „… dieser Hof hat geatmet. Wenn wir durch die Räume gegangen sind, haben wir die Jahrhunderte gespürt. Da kam eine ganz alte Kindheitsfrage von mir auf. (…) Was ist in diesen Wänden wohl alles schon passiert. Wer ist schon mal an dieser Stelle gesessen, an der ich jetzt sitze …“
Die Geschichte ist eher körperlich spürbar als rational nachvollziehbar
Dazu vier Frauen, vier Epochen, rund 100 Jahre Zeitgeschehen. Aufbereitet in miteinander verwobenen Geschichten. Von Alma (Hanna Heckt), Erika (Lea Drinda), Angelika (Lena Urzendowsky) und Nelly (Zoë Baier). Ein Frauenfilm, streng aus weiblicher Perspektive aufgerollt. Vier Daseine, geprägt von Kindheit, Verlust und Schweigen. Über Generationen hinweg hinterlassen unausgesprochene Traumata und familiäre Schatten ihre Spuren – bis sich Vergangenheit und Gegenwart auf unheimliche Weise überlagern. Ein mutiger, höchst unkonventioneller Ansatz. Eine emotionale Tour de Force. Eine schmerzhafte Meditation.
Eine stringente Story gibt es nicht. Der „Inhalt“ lässt sich nicht einfach nacherzählen. Er setzt sich wie ein Mosaik zusammen. Ist episodisch gestaltet, eher körperlich spürbar als rational nachvollziehbar. Nicht unbedingt leicht zugänglich – dennoch von ungeheurer Sogkraft.
Beginnend in den frühen Jahren des letzten Jahrhunderts, in denen die kleine Alma die Welt der Erwachsenen mit ihren Riten und ihrer Gottesfurcht zu begreifen versucht. Dann tritt Bauerntochter Erika auf den Plan, in den 1940er-Jahren, dem Horror des Zweiten Weltkrieg, fasziniert vom Onkel, dem man den Unterschenkel amputiert hat. Angelika, in der DDR aufgewachsen, steht für die Achtziger im geteilten Deutschland. Der Freiheitsgedanke ist hier zentrales Moment. Der Traum vom Westen.
Die Bilder sind oft nervös und dunkel, es gibt mehr Fragen als Antworten
Schließlich Nelly. Eine Frau der Gegenwart, der Moderne. Teil einer Berliner Familie, die den vollkommen heruntergekommenen Hof in Eigenregie wieder herrichten möchte. Mit dem Gestern als Bürde, belastet von den Erlebnissen ihrer Vorgängerinnen. Durch Erinnerungen an die Frauen und Mädchen, die verschwunden sind oder Suizid begangen haben. Sie geistern durch den Film.
Lena Urzendowsky – die Vielbegabte
- Noch ehe sie 2018 in ihrer Heimatstadt Berlin ihr bilinguales deutsch-französisches Abitur machte, war Lena Urzendowsky, 2000 geboren , als Schauspielerin tätig.
- Bereits ab 2005, besuchte sie die Theater- und Musicalschule Stage Factory Berlin , die sie 2012 als Jahrgangsbeste abschloss.
- Ihr Debüt vor der Kamera gab sie 2014 in der ZDF-Märchenverfilmung „Die Schneekönigin“, im Kino konnte man sie erstmals 2016 in „Bibi & Tina: Mädchen gegen Jungs“ bewundern.
- Seitdem ist sie – unter anderem mit dem Grimme-Preis, dem Deutschen Fernsehpreis und dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet – bei TV und Film gleichermaßen gefragt . So war sie etwa im Fernsehspiel „Das weiße Kaninchen“, drei „Tatort“-Episoden oder der Prime-Video-Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ sowie in den Kinoproduktionen „Trümmermädchen“, dem Roadmovie „791 km“ oder Andreas Dresens „In Liebe, euere Hilde“ zu sehen.
- Bei den Wormser Nibelungen-Festspielen schlüpfte Urzendowsky 2023 in die Titelrolle der „Brynhild“, belohnt mit dem Mario-Adorf-Preis . Das Preisgeld spendete sie an den Sea-Watch e. V., der sich um zivile Seenotrettung an Europas Grenzen kümmert.
- Neben ihrem Beruf besucht sie die Berliner Humboldt-Universität, wo sie Philosophie und Sozialwissenschaft studiert. geh
Reale Figuren oder Gespenster? Das gilt es selbst zu entscheiden. Mehr Fragen als Antworten. Blicke durch Schlüssellöcher und nur einen Spaltbreit geöffnete Türen, vergilbte historische Aufnahmen. Im engen 1,37:1-Format – entsprechend dem Gefangensein der Charaktere – vom fabelhaften Kameramann Fabian Gamper, Schilinskis Lebensgefährte, gedreht. Die Handkamera kommt zum Einsatz, nervös, dunkel, fast undurchdringlich sind seine Tableaus streckenweise. Umso furchterregender, wenn zwischendurch etwas ganz deutlich zu sehen ist. Etwa wenn ein Mähdrescher auf eine der Protagonistinnen zufährt, die sich in einem Getreidefeld an ein Rehkitz schmiegt. Auf der Tonspur hört man das Gefährt zunächst.
Ein hypnotisches Gesamtkunstwerk
Großartig, wie die Filmemacherin Bild und Ton da zum Schreckensmoment verknüpft. Darüber hinaus ein exzellentes Gespür für die richtige Musikauswahl beweist, etwa mit dem Trauermarsch „Stranger“ der schwedischen Sängerin und Pianistin Anna von Hausswolff, der dreimal – leitmotivisch fast – zum Einsatz kommt.
Von den Darstellern muss man gar nicht mehr sprechen. Ob Urzendowsky, Heckt, Drinda, Baier, Luise Heyer als Christa, Susanne Wuest als Emma, Laeni Geiseler als Lenka oder Greta Krämer als Lisa. Allesamt agieren auf den Punkt. Ein Traumensemble. Ein hypnotisches Gesamtkunstwerk, das tief ins kollektive als auch persönliche Gedächtnis eindringt. Eine Arbeit über das Flüchtige, das Un(be)greifbare, das ewig nachhallt. Gnadenlos, ohne typisches Happy End.
Dennoch wunderschön, wie schon der Titel, der zum Träumen einlädt, geschaffen von einer Künstlerin, die vorführt, über welche unendlichen Möglichkeiten das Kino verfügt.
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