Wien. Um Familienbande, Männer, Kinder und vor allem starke Frauen drehen sich die Filme von Carine Tardieu, deren letzte Arbeiten „Eine bretonische Liebe“ (2027) mit Cécile de France und „Im Herzen jung“ (2021) mit Fanny Ardant auch hierzulande Verleiher fanden. Um (unmögliche) Beziehungen geht es bei ihr gerne, um Schicksalsschläge und daraus resultierende neue Herausforderungen. Nun legt die Pariserin, Jahrgang 1973, ihren fünften Spielfilm als Regisseurin vor: „Was uns verbindet“, uraufgeführt 2024 auf den Filmfestspielen von Venedig, im Entstehungsland Frankreich mit knapp 700.000 Besuchern in vier Wochen ein Publikumshit.
Die zentrale Figur heißt Sandra (Valeria Bruni Tedeschi), eine alleinstehende Frau in den Fünfzigern, Betreiberin einer feministischen Buchhandlung. Sie genießt ihr unabhängiges, selbstbestimmtes Dasein, schert sich nicht um Konventionen und verfügt über einen großen, bunten Freundeskreis. Sie ist glücklich und mit sich im Reinen. Bis eines Tages ihre Nachbarn, Alex (Pio Marmaï) und die hochschwangere Cécile (Mélissa Barbaud), vor der Tür stehen. Mit der Bitte doch für eine Weile auf ihren sechsjährigen Sohn Elliott (César Botti) aufzupassen, weil Céciles Fruchtblase geplatzt ist und das Paar nun dringend ins Krankenhaus muss. Nur zögerlich willigt Sandra ein.
Film „Was uns verbindet“: Einzelkämpferin Sandra muss ihre Rolle in der Welt neu überdenken
Auf dem Roman „L'intimité“ von Alice Fernai fußt die Story, das Drehbuch hat Tardieu gemeinsam mit Raphaële Moussafir („Das perfekte Geschenk“) und Agnès Feuvre („Die Gleichung ihres Lebens“) verfasst. Eine unverhofft-kommt-oft-Geschichte, die das Leben der Protagonistin auf den Kopf stellt. Weil Cécile bei der Entbindung Lucilles stirbt und Sandra plötzlich zur wichtigen Bezugsperson für Elliott und dessen überforderten Stiefvater wird. Was als vorübergehende – eigentlich nur aus Höflichkeit angebotene – Hilfe gedacht war, führt zu einer unerwartet tiefen Bindung und dazu, dass Einzelkämpferin Sandra ihre Rolle in der Welt neu überdenken muss.
Valeria Bruni Tedeschi - die Alleskönnerin
Sie ist Fixstern des europäischen (Arthouse-)Kinos, Valeria Bruni Tedeschi, 1964 geboren in Turin , in Frankreich aufgewachsen, wo sie heute in Paris l ebt.
Ihr Handwerk erlernte sie an der École des Amandiers in Nanterre , wo Patrice Chéreau zu ihren Lehrern zählte, der ihr im Drama „L'Hôtel de France“ 1987 zur ersten größeren Rolle verhalf und sie später in der Dumas-Adaption „Die Bartholomäusnacht“ und der Romanze „Wer mich liebt, nimmt den Zug“ besetzte.
Breit aufgestellt ist die Aktrice, war etwa in Jacques Doillons „Die Verliebte“ , „Ein Sommer an der See“ von Diane Kurys, Steven Spielbergs „München“ , Ridley Scotts „Ein gutes Jahr“ oder Ursula Meiers „Die Linie“ zu sehen.
Weit über 30 Auszeichnungen hat die Mimin, die zudem Bühnenparts übernimmt – so in Kleists „Penthesilea“ oder Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ – gewonnen, darunter ein Césa r für „Verrückt – nach Liebe“ und der Pasinetti-Preis für „5 × 2 - Fünf mal zwei“.
2003 debütierte Bruni Tedeschi mit „Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr“ als Regisseurin, zuletzt hat sie „Forever Young“ inszeniert.
Von 2007 bis 2012 war sie mit Louis Garrel („Actrices – Oder der Traum aus der Nacht davor“) liiert, 2009 adoptierte sie ihre aus dem Senegal stammende Tochter Oumy . geh
Über einen Zeitraum von rund zwei Jahren spannt sich die Handlung, gegliedert in verschieden lange Abschnitte. Mit dem jeweiligen Alter Lucilles sind die Kapitel überschrieben. Ein Tag, eine Woche, zwei Monate etc. Keine kontinuierliche, konsequent Erzählung, sondern eher ein kaleidoskopisch zusammengesetztes Mosaik. Momentaufnahmen, die sich langsam zu einem Bild fügen. Die verschiedenen Figuren lernen sich langsam besser kennen, nähern sich einander an. Darunter Céciles Ex David (Raphaël Quenard), der eine Beziehung zu seinem Sohn Elliott aufbauen möchte, oder die kluge, quirlige Ärztin Emilia (Vimala Pons), in die Alex sich verliebt.
Mit Kindern weiß Sandra im Film „Was uns verbindet“ zuerst nicht umzugehen
Mittendrin Sandra, höchst glaubwürdig verkörpert von der italienischen Vielspielerin Bruni Tedeschi („Die Überglücklichen“). Eine Eulen-Brille trägt sie, durch die sie ihre Mitmenschen kritisch beäugt. Kantig, schroff, ist sie zunächst. Ablehnend, mit Kindern weiß sie nicht umzugehen. „Du kennst dich nicht aus mit kleinen Jungs. Du hast keine Kinder“, wirft ihr Elliott vor. Worauf die Frau keine Antwort hat. Schweigt. Bis das Eis zwischen ihnen langsam taut. Es zu ersten zaghaften Umarmungen kommt, zu kleinen Geschenken wie einem „Schneewittchen“-Buch. Da leuchten die Augen des Buben.
Derweil in Sandra ganz unerwartet Muttergefühle erwachen. Diese werden gespiegelt in den Problemen des Elternseins, dem ständigen Stress durch die Doppelbelastung auf familiären Verpflichtungen und der Notwendigkeit Geld zu verdienen. Alex hängt beruflich ständig am Telefon. Das Baby im Arm, nebenbei das Geschirr spülend. Sandra wiederum ist nonstop mit ihrem Smartphone beschäftigt, kämpft um ihr Geschäft, leidet unter stark schwankenden Umsätzen und muss sich obendrein mit ihren anstrengenden Mitarbeitern herumschlagen. Alltag. Bestens bekannt und perfekt auf den Punkt gebracht. Dass darunter Beziehungen leiden oder gar zu Bruch gehen, ist von logischer Konsequenz.
Ein kluges, realitätsnahes Drama mit tragischem Beginn und versöhnlichem Ende. Handwerklich sauber und ruhig gestaltet, getragen von einem harmonierenden Ensemble, das Bruni Tedeschi dominiert. Eine zentrale Rolle kommt dem treibenden Soundtrack zu. „Don't Get Me Wrong“ von Chrissie Hynde und den Pretenders ist bei einer Hochzeitsfeier zu hören, der russische Ohrwurm „Otschi tschornyje" („Schwarze Augen“), nervöse (Gypsy-)Jazz-Rhythmen, ein paar Takte Weltmusik und final – genial eingesetzt – der brasilianische Pop-Hit „Você Abusou“ von Antonio Carlos and Jocafi in der Version von Maria Creuza. Jeder Song, jeder Ton, passt perfekt zur jeweiligen Szene und gibt so die Stimmung vor. Das allein lohnt schon den Kinobesuch.
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