Mannheim. Frau Wilke, seit dem 7. Oktober, dem Tag des barbarischen Terrorüberfalls der Hamas auf Israel, hat die geplagte Welt noch eine Krise mehr. Speziell im Inland bereiten drohender Wohlstandsverlust oder politischer Extremismus Sorgen. Wer soll da noch Sinn für ein Literaturfestival wie Lesen.Hören haben?
Insa Wilke: Ich glaube, gerade jetzt gibt es ein starkes Bedürfnis nach Informationen und Gemeinschaft. Letzteres zeigt sich ja auch aktuell bei den Demonstrationen gegen die AfD: Es gibt eben ein großes Bedürfnis und eine große Bereitschaft der Menschen, sich zusammenzuschließen.
Und ich glaube, das Publikum wünscht sich gerade in solchen Zeiten auch Lesungen, Literatur, Gespräche und die Präsenz kluger Menschen, die einem etwas mitzuteilen haben. Alles das kann und soll unser Literaturfestival bieten.
Ich gewichte Unterhaltung nicht geringer als politische Information, aber Letztere ist eben auch wichtig
Aber was nützt dem Menschen derzeit vor allem – eher Unterhaltungsformate, um schlicht mal Luft zu holen und sich abzulenken, oder Abende, die selbst zur Krisenbewältigung beitragen wollen und deshalb die Probleme der Zeit konkret diskutieren?
Wilke: Ich denke, das spielt beides eine Rolle. Es ist gerade jetzt sehr wichtig, Lebensfreude zu empfinden. Das hat ja fast was mit Widerstand zu tun momentan. Ich gewichte Unterhaltung nicht geringer als politische Information, aber Letztere ist eben auch wichtig.
Der Abend mit Meron Mendel, der über das deutsche Verhältnis zu Israel sprechen wird, gehört dazu, oder die Diskussion mit den Anwältinnen Asha Hedayati und Christina Clemm, die Fälle sexueller Gewalt gegen Frauen gesammelt haben und das Justizsystem sehr kritisch sehen. Auch die Lesung der palästinensischen Autorin Adania Shibli aus ihrem literarisch beeindruckenden Roman „Eine Nebensache“, der im Herbst so problematisch diskutiert wurde, zählt dazu.
Insa Wilke
- Die promovierte Literaturwissenschaftlerin Insa Wilke wurde 1978 in Bremerhaven geboren.
- Sie erhielt 2014 den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik geehrt.
- Die Wahl-Berlinerin verantwortet seit 2016 das Programm des Literaturfestivals Lesen.Hören in Mannheim.
- Wilke verwaltet den Nachlass des Publizisten Roger Willemsen, der das Festival zuvor geleitet hatte.
Was mir wichtig ist: Literatur und Literaturfestivals können die Krisen der Welt nicht lösen. Es ist Sache der Politik, Lösungen zu finden, und das kann sie auch nicht auf den Kulturbetrieb abschieben. Aber die Kultur und wir alle können Politik doch vorbereiten, indem wir zeigen, was wir wollen, was uns Angst macht und dass es eben den großen Wunsch gibt nach politischem Handeln. Insofern ist die Kultur mit ihren Veranstaltungen auch als ein Verstärker der Bevölkerung wichtig.
Kunst hat einen kritischen Anspruch und hinterfragt, sie gibt die Möglichkeit, die Wahrnehmung zu verlangsamen
Was vermag das Literarische, Künstlerische denn zur viel beschworenen Resilienz, also einer seelischen Widerstandskraft, beizutragen, die heute so wichtig ist?
Wilke: Politik oder Journalismus neigen notwendigerweise in ihren Sprechweisen dazu, Konflikte und ihre Ursachen zu definieren und damit festzulegen und auch zu vereinfachen. Die künstlerischen Ausdrucksformen machen die Sache wieder komplexer, sie berücksichtigen beispielsweise auch die emotionale Ebene.
Die Notwendigkeit zu einer sehr zielorientierten Sprache in Politik oder Journalismus erhält so ein Gegengewicht durch menschliche Aspekte, die meistens mehrdeutig sind. Das wahrzunehmen, entlastet uns auch seelisch. Kunst hat einen kritischen Anspruch und hinterfragt, sie gibt die Möglichkeit, die Wahrnehmung zu verlangsamen; sie eröffnet einen Raum des Nachdenkens und fürs Zuhören.
Gibt es im Programm neben den problemorientierten Veranstaltungen mit gesellschaftspolitischem Bezug auch noch klassische Literaturformate, konzentrierte Lesungen aus neuen erzählerischen Büchern wichtiger Autorinnen und Autoren?
Wilke: Unbedingt, wobei ich das eben nicht so trennen würde, weil ja auch solche Bücher Fragen reflektieren, die uns alle betreffen. Der Abend mit dem Theatermacher Necati Öziri ist ein klassischer Literaturabend, sein Debütroman „Vatermal“ ist ein mitreißendes sprachgewaltiges Buch.
Gleiches gilt für die Veranstaltung mit Jarka Kubsova, die mit ihrem Roman „Marschlande“ gerade viel Aufmerksamkeit findet. Sehr gespannt bin ich auch auf Bora Chung, die aus Südkorea extra für uns nach Mannheim kommt und mit ihrer literarisch ebenfalls sehr aufregenden Kollegin Barbi Markovic ein geheimes Highlight des Festivals ist. Die beiden sind ein perfektes Beispiel dafür, dass Unterhaltung und vor allem Humor und knallharte Kritik sich überhaupt nicht ausschließen.
Lesen.Hören 2024
- Lesen.Hören beginnt 2024 am Donnerstag, 22. Februar, 20 Uhr.
- Zur Eröffnung hat die Mannheimer Autorin Elisa Diallo drei Gäste eingeladen: Mirrianne Mahn, Raphaëlle Red und Dean Ruddock, die eigene Texte lesen und die ihrer Idole der Schwarzen Literatur. Durch den Abend führt Alexandra Antwi-Boasiako.
- Das Festival dauert bis 10. März, wenn Schauspielerin Katja Riemann mit Wilke über Menschen auf der Flucht spricht.
- Im selben Zeitraum läuft das separate Kinder-und Jugendprogramm.
- Mehr Infos: altefeuerwache.com
Die Ukraine war die vergangenen beiden Jahren ein Thema des Literaturfestivals. Halten Sie die Erinnerung an den Krieg und die Lage der Menschen dort weiter wach?
Wilke: Wir denken weiter an die Menschen in der Ukraine und wollen uns solidarisch zeigen. Ich hoffe, dass viele Mannheimer Menschen an dem Abend dabei sind, wenn Birgitta Assheuer Briefe liest, die Ukrainerinnen an uns hier im Westen geschrieben haben, und zur anschließende Diskussion.
Als Zeichen der Solidarität und auch der Dankbarkeit verstehe ich übrigens ebenso den Eröffnungsabend, der den Schwerpunkt auf Schwarze Literatur legt. Wir würdigen die aufklärerische Arbeit derjenigen, die den Abend gestalten und denen wir als Gesellschaft übrigens viel zu verdanken haben.
Können Sie das noch etwas weiter erläutern?
Wilke: Die Autorin Elisa Diallo, die in Mannheim lebt, hat den Abend kuratiert und dazu Autorinnen und Autoren eingeladen, die selbst die deutsche Schwarze Literatur repräsentieren; sie stellen wiederum einige ihrer literarischen Vorbilder vor. Das Festival „Resonanzen“, das zu den Ruhrfestspielen Recklinghausen zählt, hat uns dazu inspiriert; es richtet die Aufmerksamkeit auf die Schwarze Literatur hierzulande, die ja erst seit wenigen Jahren wahrgenommen wird.
Solche Literatur eröffnet Blicke auf unsere Gesellschaft, die vorher nicht möglich waren. Das macht mich zweifach dankbar – konkret dem Festival „Resonanzen“ gegenüber für die Initiative und dann eben auch generell für den langen Atem der Schreibenden, für die es nicht einfach ist, sich durchzusetzen und mit denen wir uns gemeinsam verändern können.
Darf man die Eröffnung als einen programmatischen Abend für das Festival verstehen?
Wilke: Unbedingt, so würde ich es sehen, gerade hinsichtlich der neuen Perspektiven und der Aufbruchsstimmung, die sie vermitteln.
Worauf sind sie mit Blick auf das diesjährige Festival ebenfalls noch besonders gespannt?
Wilke: Wir sind immer unglaublich neugierig, ob die Abende so werden, wie wir uns vorgestellt haben. Es gibt ja keine Proben. Manchmal wird es ernster, manchmal viel lustiger als wir erwartet haben. Persönlich bin sehr gespannt, wie Bora Chung und Barbi Markovic aufeinander reagieren werden.
Auch auf den Kafka-Abend bin ich gespannt, für den die Schriftstellerin Lena Gorelik Texte ausgesucht hat, die von der Schauspielerin Jella Haase gelesen werden. „Der komische Kafka“ ist das Motto, Franz Kafka wird ja oft eher vergrübelt gelesen, aber seine Literatur ist eben auch sehr komisch.
Wird Ihre Zuversicht, auch und gerade in Krisenzeiten als Festival relevant zu bleiben, durch die Nachfrage nach Eintrittskarten bislang bestätigt?
Wilke: Unbedingt! Der Abend mit den Historikern Christopher Clark und Frank Trentmann ist schon ausverkauft, was mich besonders freut, weil es bestätigt, was ich anfangs gesagt habe. Auch Heinz Strunks Abend ist leider schon ausverkauft. Aber für alle anderen Abende gibt es noch Karten und wir freuen uns auf drei intensive Wochen mit unseren Gästen und unserem Publikum.
Ich bin sicher, es wird in vielfacher Hinsicht bewegend werden und ich selbst bin immer wieder froh, ein Teil dieser Mannheimer Bereitschaft zu sein, sich bewegen zu lassen. Das ist eine Freude und eine Ehre.
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