Mannheim/Schwetzingen. Wenn dieser Pianist auf die Bühne kommt, ganz oben schön verstrubbelt, eine Etage tiefer dann ganz in Schwarz und unten mit gelben Socken und weißen Sneakern, wirkt er fast, als hätte er sich an der Tür geirrt. Doch Michael Wollny geht dann doch geradewegs an den Steinway und tut, was er – unseren Kenntnissen nach – am besten kann: Klavierspielen.
Im Nu nimmt er den Raum ein, tastet sich nach ein paar einfachen polyphonen Phrasen von fast Bach‘scher Kathedralik voran in modale Gefilde, streift die schwerelosen Sphären der Ganztonleitern und driftet dann recht schnell ab in etwas, was man guten Gewissens als katastrophisch bezeichnen könnte. Wollny peitscht die Pranken auf die Tasten, wie Prokofjew es kaum besser gekonnt hätte. Es wütet. Es kracht. Es erhebt sich eine Macht gegen das Prinzip Ordnung. Das liebliche Rokokotheater, an diesem Abend voll besetzt, zittert ob dieser Urgewalt, ob dieser Eruption von Kraft, Wille und Emotion.
Wer Wollny kennt, weiß, dass er ein deutscher Einzelfall ist: Er ist eben keiner dieser Jazzpianisten, die in allen möglichen Formationen Jazz spielen. Wollny will, spätestens seit seinem Album „Mondenkind“, die Königsdisziplin der Pianisten erobern: das Solo-Recital.
Es ist ungerecht, aber auch bei Wollnys Unterfangen steht ein großer schwarzer Gorilla im Rokokotheater. Jeder, der heute tut, was Wollny tut, sich also allein auf einer großen Bühne an einen Flügel zu setzen und sich planlos improvisierend treiben zu lassen, muss sich unweigerlich mit Keith Jarrett messen lassen – diesem Genie, dem Erfinder des Genres, dem Titanen des Tastenmonologs, der einst den Konzertflügel zur Bühne für kosmische Selbsterkundungen machte und damit im Falle des „Köln Concerts“ sogar die Welt eroberte.
Von alten Kirchentonarten zu modernen Klängen
Und so, wie Jarrett es über Jahrzehnte tat, reist auch Wollny durch Raum und Zeit. Das Wunder-„Mondenkind“ von 2020 ist längst zu einem ausgewachsenen intergalaktischen Skywalker mit besonderen Fähigkeiten geworden. Wollnys Repertoire der Stile hat sich exponentiell erweitert und reicht von den alten Kirchentonarten (Modi) über die Romantik und die Moderne bis in die postseriellen Konstrukte eines Karlheinz Stockhausens und Clustergebirgen und dem zarten Zupfen der Saiten im Instrumenteninnern.
Michael Wollny
- Michael Wollny (* 25. Mai 1978 in Schweinfurt) ist ein renommierter deutscher Jazzpianist und Professor an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Seine musikalische Ausbildung begann er an der Musikschule Schweinfurt und setzte sie am Hermann-Zilcher-Konservatorium in Würzburg fort. Ab 1997 studierte er Jazzpiano an der Hochschule für Musik Würzburg bei Chris Beier und schloss 2002 mit Auszeichnung ab. Weitere Studien folgten bei John Taylor und Walter Norris.
- Wollny war Mitglied des Bundesjazzorchesters und spielte in verschiedenen Formationen, darunter das Trio [em] mit Eva Kruse und Eric Schaefer sowie Duos mit Heinz Sauer. Er arbeitete mit Künstlern wie Nils Landgren, Joachim Kühn und Marius Neset zusammen. Seine Diskografie umfasst zahlreiche preisgekrönte Alben, darunter „Weltentraum“ (2014), das die Pop-Charts erreichte.
- Für sein Schaffen erhielt Wollny zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Preis der Deutschen Schallplattenkritik, den ECHO Jazz und den Bayerischen Staatspreis für Musik. Seit 2014 lebt er in Leipzig und lehrt an der dortigen Hochschule für Musik und Theater.
Das Resultat im Rokokotheater ist nicht weniger als spektakulär, eine improvisierte Version der Postmoderne, in der (fast) alles koexistiert. So beamt sich Wollny bisweilen auch sehr sprunghaft von einem Stern zum andern, bisweilen bekommt man auch den Eindruck, er sei fremdbestimmt in dem, was er da macht.
Das Hauptmerkmal der Postmoderne ist ja die Skepsis gegenüber universellen Wahrheiten und „großen Erzählungen“, die in der Moderne zur Legitimation von Wissen und gesellschaftlichen Strukturen dienten. Auch Wollny traut diesen Wahrheiten nicht, wie er später, nach Ende des Konzerts, im Artist-Talk mit der Journalistin Maxi Broecking auch wird durchscheinen lassen. Deswegen hat er wohl, als Gegenpol zum Enjoy-Jazz-Motto „Knowing“, sein großes, doch fast 50 Minuten währendes Stück schlicht „Unknown“ genannt.
Sehnsucht nach Struktur in musikalischem Chaos
Wollnys „Unknown“ beschwört im Rokokotheater den Pluralismus, die Fragmentierung und die Relativität stilistischer Wahrheiten, wodurch Wollny die Vielfalt individueller Perspektiven und die Kontextabhängigkeit von Wissen hervorhebt.
Bei einem solchen Sturm an Stilen, Epochen, Emotionen, Zitaten und der Wollny eigenen, mitunter sehr wilden und ungestümen Virtuosität kann es passieren, dass eine Sehnsucht entsteht, ein Art Wunsch nach Verlässlichkeit, nach Echtheit, nach Ernsthaftigkeit dessen, was da gerade passiert. Denn natürlich führt Wollnys Prinzip des Sich-auf-88-Tasten-durch-den-musikalischen Kosmos-treiben-Lassens zu einer gewissen Beliebigkeit, in der ein einzelner Ton, eine Melodie, eine Wendung oder Phrase minimalisiert und unbedeutend wird, zu interstellarem Staub in den Weiten des Universums.
So leuchten sie also auf, Titel wie „The rain never stops on Venus“ oder „Father Lucifer“, man freut sich, dass in den universellen Weiten etwas Bekanntes aufleuchtet und zu erkennen ist, doch handelt es sich doch nur um Schimären, die im Großen und Ganzen verschwimmen wie ein TRaum, an den man sich am nächsten Morgen nur vage erinnert.
Keine Frage: Das ist große Kunst, und sie wäre noch größer, wenn sie sich mehr Zeit nähme, wenn sie wahre Momente der Einkehr, des Gefühls und intensiven Gesangs offenbaren könnte, ja, fast möchte man Wollny raten, in manchen Momenten einfach passiver zu sein und Kosmen entstehen zu lassen, entspannt und mit viel Zeit.
Denn natürlich ist Wollny ein nervöses Energiebündel. Seine Beine und Füße zappeln meist neugierig und geduldlos. Die Welt scheint zu langsam für ihn. Auch im zweiten Stück des Abends ist das so, da gibt er den Choral-Charakter schnell einer brutalen Maschinerie aus Tremoli, Klangflächen, bitonalen Sequenzen und wilden Bass-Attacken preis, bei denen er mal wieder seine Hände ins Flügelinnere führt und ratscht, hämmert und kratzt. An der Tür hat sich der Ausnahmepianist nicht geirrt. Aber nur, wenn er seine Kunst als fortwährendes Irren betrachtet, kann er sich zu noch höheren Höhen führen.
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