Ludwigshafen. Die Farbe Blau erlaubt viele Assoziationen. Vom „Blaumann“ als Kluft des Industriearbeiters bis hin zum „blauen Planeten“. Auch „Navy Blue“ meint mehr als nur das Blau des Meeres, steckt in Marineblau doch auch der Krieg. Und nicht zuletzt wird die Farbe Blau in der Psychologie mit Depression verknüpft.
All diese Metaphern verknüpft die Choreografin Oona Doherty in ihrem ersten Stück für ein großes Ensemble zu einem 60-minütigen aufwühlenden Tanzerlebnis, das sie im Theater im Pfalzbau vorstellte. Vor zehn Jahren war die Nordirin wie ein „Shooting Star“, eine Sternschnuppe, über die Tanzwelt hereingebrochen. Zum großen Glück verglühte sie nicht: Ihre Stücke rütteln mit gesellschaftskritischen Fragen auf und geben den Nöten der Arbeiterklasse eine Bühne. 2021 wurde sie für ihre außergewöhnliche Handschrift mit dem Silbernen Löwen bei der Tanzbiennale Venedig geehrt.
Auch „Navy Blue“ nimmt die Themen Arbeit, Unterdrückung und Umweltzerstörung auf, führt sie fort zu einer Zustandsbeschreibung unserer Zeit und lenkt den Blick auf das Individuum, seine Traumata und inneren Kämpfe - und seine Suche nach Sinn.
In der Choreografie ist die Bedrohung greifbar
Das Szenario ist düster: Zwölf Tänzer reihen sich auf, uniform gekleidet in blaue Zweiteiler. Rachmaninows zweites Klavierkonzert untermalt ihre Bewegungen: Köpfe und Körper zucken, Augen weiten sich angstvoll, Fäuste werden geballt, mal kraftvoll und kämpferisch, mal mutlos und nur in der Tasche. Wie ein Schwarm agieren sie: kreisen und wirbeln umher in immer neuen Formationen, bilden Pulks wie Pinguine, die einander wärmen, holen Einzelne, die sich lösen, wieder zurück in die Gemeinschaft. Die Bedrohung ist greifbar, die Musik findet ihren Widerhall in Elementen des klassischen Balletts, die Doherty ins moderne Vokabular einstreut.
Die Choreografin hat das Stück in einer Phase der Einsamkeit entwickelt und die elegischen Klänge Rachmaninows nicht ohne Grund gewählt: Der russische Komponist hatte sich mit seinem berühmtesten Konzert aus einer tiefen Depression freigeschrieben. Für die zwölf Blaumänner und -frauen ist solcherlei Erlösung so weit entfernt wie die sehnsuchtsvoll betrachteten Sterne am Himmel. Denn plötzlich zerschneidet ein Schuss die Musik. Der erste Tänzer fällt. Das Einander-Schützen-Wollen erweist sich als wirkungslos. Weitere Schüsse fallen, nach gut der Hälfte dieser „blauen Stunde“ liegen elf Akteure leblos am Boden. Blaues Licht sickert wie Blut unter ihren Körpern hervor und fließt zu einem Ozean zusammen, während die Soundkomposition des Produzenten Jamie xx Rachmaninows Musik dekonstruiert zu einem metallenen Brummen und Röhren.
Eine weibliche Stimme spricht in Satzfetzen über die Zerstörung der Erde, Gewalt, Totalitarismus und die Angst des Einzelnen vor der Bedeutungslosigkeit. „Dance!“ wird zur Aufforderung, der die Tänzer Folge leisten. Einem fulminanten, überwältigen Solo zu anschwellenden Orgelklängen folgt das tröstende Schlussbild: eine innige Umarmung. Gibt es doch Hoffnung?
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/kultur_artikel,-kultur-navy-blue-stellt-im-ludwigshafener-pfalzbau-gesellschaftskritische-fragen-_arid,2201283.html