Mannheim. Der Auftakt des 12. Maifeld Derbys am Freitag ist angenehm entspannt. Die 4000 Gäste scheinen vor allem die Selbstverständlichkeit zu zelebrieren, mit der man wieder Festivalatmosphäre genießen kann. Und sie verteilen sich gewohnt aufgeschlossen, aber erstaunlich gleichmäßig auf die teilweise extrem unterschiedlichen musikalischen Planeten, die nur wenige Gehminuten voneinander entfernt sind. Selbst der sehr exklusive Headlinerinnen-Auftritt von Bat For Lashes füllt das Palastzelt nicht extrem. Das ist am Samstag komplett anders: Denn die Band Phoenix aus Versailles legt einen standesgemäß majestätischen Auftritt hin, dem die Masse im Zelt die kompletten 85 Minuten lang hingebungsvoll huldigt.
Mit spielerischer Leichtigkeit und nicht erlernbarer Eleganz werden die live zu sechst agierenden Franzosen ihrem Ruf als ewige Festival-Darlings vollauf gerecht. Und legen einen Headliner-Auftritt, den selbst Interpol zum Derby-Abschluss am Sonntagabend kaum toppen können. Dabei schaffen es Phoenix, fast ihre komplette Karriere mit Songs aus sieben Alben abzubilden und trotzdem ein vor allem mitreißendes Festival-Set zu liefern. Das durch enorme Abwechslung besticht: Sie starten fast britpoppig und penetrant fröhlich mit „Lisztomania“ und „Entertainment“. Allein das Song-Quintett vor der Zugabe aus „Love Like a Sunset Part I + II“, „Long Distance Call“, „If I Ever Feel Better“ und „Funky Squaredance“ deckt ein faszinierendes Spektrum zwischen Progrock und Daft-Punk-Funk ab.
Einfache, aber starke visuelle Effekte
Mit relativ einfachen Mitteln verstärkt die Bühnenshow die Sogwirkung der Musik durch extrem passende Musik: Wo dem Sound zu Beginn mit Blicken in prunkvolle Schlosssäle und –parks der Kronleuchter aufgesetzt wird, setzen später illuminierte geometrische Formen oder rasant nach hinten fliegende Straßenschluchten stark nachhallende visuelle Effekte. Ein lange nicht gehörter Phoenix-Klassiker wie „Everything Is Everything“, das lässige „Trying To Be Cool“ und vor allem der Hit „1901“ räumen in der Zugabe alles ab. Zumal der extrem charismatische, auch mal in der Menge badende Frontmann Thomas Mars immer wieder erfolgreich Charmeoffensiven startet. Etwa wenn er von einem wunderbaren Off-Day in Mannheim mit tollen Gesprächen in Bars und Filmtheatern erzählt. Oder sich dafür entschuldigt, dass ihr Deutsch so armselig sei, obwohl sie sich hierzulande fast zu Hause fühlten, weil zwei Bandmitglieder Mütter mit deutschen Wurzeln hätten. Viel besser geht es nicht.

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Aufpeitschender Sound der Viagra Boys
Aber schon am frühen Samstagabend nimmt das Programm noch Dynamik auf – und hat eine geradezu sensationelle Überraschung zu bieten. Zunächst demonstrieren nach Auftritten u.a. von Sinkane, Caroline Rose oder Noga Erez die schwedischen Postpunker Viagra Boys eindrucksvoll, warum sie der neuen Sturm-und-Drang-Welle im Indie, für die Namen wie Idles, Fontaines D.C. oder The Murder Capital stehen, eine eigene Note beisteuern können. Mit einem „Was geht ab, Ihr Freaks?“ begrüßt Sänger Sebastian Murphy kurz das Publikum – und peitscht danach gemeinsam mit seinen Bandkollegen durch ein furioses 60-Minuten-Set. Man erfährt unter anderem anhand der Geschichte eines Verschwörungstheoretikers, warum sich Teile unserer Spezies intellektuell zurück in Richtung der Höhlenmenschen entwickeln („Troglodyte“). Sehr unterhaltsam.
Grammy-Gewinner Loyle Carner glänzt
Für viele eine Entdeckung dürfte Loyle Carner sein, obwohl auch er wie Phoenix schon einen Grammy gewonnen hat. Unter Straßenlaternen und mit Band zelebriert der britische Rapper seine warmen, poetischen Texte auf geschmeidig-groovendem Sound _ und überstrahlt die gute Sophia Blenda aus Österreich im Reitstadion. Das Publikum im sehr gut gefüllten Palastzelt empfängt den 1994 im Süden Londons geborenen Carner mit Textsicherheit und ersetzt etwa bei „Angel“ im Refrain Sänger Tom Misch. Dem sympathischen Rapper fliegen die letzten Herzen spätestens zu, als er seinem Dreijährigen einen Song widmet. Der große Applaus macht ihn sichtlich verlegen. Am Ende sagt er: „Das war die beste Version die wir je gespielt haben.“ Ein super Typ.
Sensationelle Entdeckung: Ditz
Gleichzeitig sorgen die Südengländer von Ditz im kleinen Zelt für noch einen der unerwarteten Höhepunkte des Festivals. Mit dem ersten Song explodiert die Stimmung quasi, der Zeltboden vibriert, als die Brightoner ihren in jeder Hinsicht zwingenden Noiserock abfeuern. Sänger Cal Francis mischt sich ständig in die Menge, der Auftritt kulminiert nach 50 denkwürdigen Minuten, in dem sich alle Zeltbesucher hinsetzen – und dann gemeinsam aufspringen. Von Ditz wird man noch einiges hören, so viel ist sicher!
Viel gehört hat man in den vergangenen Jahren bereits von Warpaint, eine Konstante im weiblichen Indierock. Die vier Damen aus Los Angeles haben ihr neues Album „Radiate Like This“ mit nach Mannheim gebracht und spielen sich auf der Open-Air-Bühne durch ein routiniertes Set, das mit „I’m So Tired“ sogar eine Coverversion der Punklegenden Fugazi beinhaltet.
Während Headliner Phoenix die große Show auspackt, begeistert im kleinen Zelt auch der psychedelisch angehauchte Indiepop der Belgier The Haunted Youth. Ein bisschen The Cure, ein bisschen Slowdive – fertig ist eine atmosphärisch dichte Mixtur, die kurz vor Mitternacht verdientermaßen heftig beklatscht wird.
Es kommt auch Gutes aus Hoyerswerda - wie Pisse
Sehr gegensätzlich wird es weit nach Mitternacht: Während das britische Trio PVA mit leichter Electro-Punk-Attitüde das Palastzelt nach 1 Uhr noch einmal in einen Tanzpalast verwandelt, zeigt im Hüttenzelt eine Punkband, dass aus Hoyerswerda nicht nur Rechtsextreme kommen: Die vier jungen Männer sehen elf Jahre nach ihrer Gründung zwar immer noch aus wie Studenten, klingen aber nicht harmlos, sondern genauso rotzig, wie es der Bandname Pisse verspricht. Ronny, Ronny, Ronny und Ronny (so nennen sich die Bandmitglieder mit wohl typisch ostdeutscher Humor-Renitenz) knallen dem Publikum mit Synthesizern untermalte Zwei-Minüter wie „Komfortzone“, „Angenehm straff“, „Feind/Fehler“, das großartige Drehtür „Drehtür“ oder „Duracell“ angenehm taff und rasend schnell mitten ins Gesicht. Kein Wunder, dass das Quartett als legitime Nachfolger der Goldenen Zitronen gehandelt wird. Und irgendwie höflich sind die Ronnys auch noch, etwa wenn sich Ronny, der Sänger, beim Publikum halbironisch dafür bedankt, „dass ihr so lieb applaudiert, das nimmt uns die Aufregung“.
Starker Abschluss mit dem rappenden Zwillings-Duo Deki Alem
Zum Schluss entlassen zwischen 2 und 3 Uhr morgens die schwedischen Zwillinge Sammy Bennett und Johnny Bennett die letzten Derby-Gäste in die Nacht. Trotz später Stunde entfaltet die angenehm positive, sehr tanzbare und trotzdem entspannte, aber auch hochmusikalische Hip-Hop-Mixtur des Duos Deki Alem eine anhaltende Magnetwirkung auf das noch erstaunlich große Publikum im Hüttenzelt und darum herum. Auch ein charmanter Neuzugang für die Playlist.
Veranstalter Timo Kumpf: "Davon kann Rock am Ring nur träumen"
Im Gespräch mit dieser Redaktion hat Veranstalter Timo Kumpf am Sonntag schon einmal ein positives Fazit der zwölften Auflage seines Festivals gezogen: "Ich bin sehr zufrieden. Organisatorisch lief alles nahezu perfekt, überall glückliche Gesichter, egal ob vor, auf oder hinter der Bühne.“ Alle Künstlerinnen und Künstler hätten Top-Leistungen gebracht. „Die Grammy-ausgezeichneten Phoenix und Loyle Carner ganz vorne dabei.“ Fast noch wichtiger heutzutage: Mit jeweils 4000 Gästen am Freitag und Sonntag sowie fast 5000 am Samstag seien die Zahlen stabil. „Davon können große, etablierte Major-Festivals wie Rock am Ring in dieser Saison nur träumen“, verweist Kumpf auf die Tatsache, dass vor zwei Wochen am Nürburgring „nur“ 70000 Zuschauerinnen und Zuschauer verzeichnet werden konnten – nach 90000 im Vorjahr. Der konkrete Termin für das Maifeld Derby 2024 stehe noch nicht fest: „Ich muss da gerade für mich selbst Druck rausnehmen und möchte erstmal alles durchdenken."
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