Interview Lesen.Hören

Programmleiterin Insa Wilke: „Wir sprechen Herz und Geist an“

Von 
Thomas Groß
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Hat erneut ein auf literarischen Neuerscheinungen aufbauendes, vielseitiges Programm zusammengestellt: die als Kritikerin, Publizistin, Moderatorin und Jurorin vielseitig engagierte Insa Wilke. © Mathias Bothor

Mannheim. Über 17 Tage erstreckt sich das Programm des diesjährigen Mannheimer Literaturfestivals Lesen.Hören. Und es ist die 17. Auflage der zum Stadtjubiläum 2007 initiierten Veranstaltung. Über die aktuellen Themen und Schwerpunkte spricht die Kritikerin und Publizistin Insa Wilke, die das Programm verantwortet, im Interview.

Frau Wilke, Kulturinstitutionen klagen darüber, dass das angestammte Publikum die Corona-Zurückhaltung noch nicht aufgegeben hat und die Besucherzahlen niedriger liegen als vor der Pandemie. Wie blicken Sie angesichts dessen auf die Neuauflage von Lesen.Hören?

Insa Wilke: Zuversichtlich. Wir haben bislang einen starken Vorverkauf und bekommen auch direkt viel begeisterten Zuspruch für unser Programm. Nicht nur unsere Vorfreude scheint groß zu sein!

Den Auftakt des Festivals bildet ein nachdenklicher Abend zur Ukraine. Wie sehr haben die aktuellen Krisen Sie persönlich bei der Programmplanung für die 17. Ausgabe beeinflusst?

Wilke: Wir sehen Literatur ja immer im Kontext gesellschaftlicher und politischer Fragen, die uns alle beschäftigen. Wie könnte das auch anders sein, wir leben, schreiben und lesen ja alle hier und heute. Uns ist aber immer wichtig, aus den immergleichen Fahrwassern zu kommen. Darum haben wir zur Ukraine keine Diskussion, sondern Tanja Maljartschuk eingeladen, uns zu erzählen, was die ukrainische Kultur für sie ausmacht, welche Stimmen ihr wichtig sind. Darum bringen wir Iran und Russland zusammen und hoffen, durch die Frage nach der Möglichkeit und eben dem Ausbleiben von Widerstand in der Bevölkerung etwas zu verstehen über Gesellschaften, von denen viele im Grunde wenig wissen. Darum bringen wir aber auch Dinçer Güçyeter und Marc Sinan zusammen, die uns etwas über eine bislang immer noch verborgene Wirklichkeit bei uns hier zu sagen haben und ihre Geschichten mit enormer Kraft auf die Bühne bringen. Darum laden wir auch Angela Steidele ein, die über das 18. Jahrhundert eigentlich davon spricht, was heute los ist. Und das alles eben nicht verkopft, sondern ganz direkt Herz und Geist ansprechend und bewegend.

Was wir bieten möchten, ist mitreißende Begeisterung und Zuversicht

Was kann und sollte ein Literaturfestival heute denn alles bieten? Der Literaturmarkt ist schließlich so vielfältig - um nicht zu sagen: beliebig fast - geworden wie kaum ein anderer Sektor des kulturellen Lebens …

Wilke: Ich halte es da mit dem lebenserfahrenen, weisen deutsch-georgischen Schriftsteller Giwi Margwelaschwili, der in den Diktaturen der Nazis und der Sowjets leben musste: Sie haben doch das Glück zu wählen! Und das tun wir als Festivalmacherinnen und -macher: Wir wählen aus einer glücklichen Fülle aus, was wir in diesem Jahr wichtig finden und mit unserem Publikum teilen und erleben wollen. Insofern: Was wir bieten möchten, ist mitreißende Begeisterung und Zuversicht. Das tun wir, indem wir durch die gedankliche Ernsthaftigkeit und die humorvolle Zuwendung unserer Gäste auf der Bühne einen Raum öffnen, in dem kein Platz für Gleichgültigkeit ist. Aus Gleichgültigkeit folgt Ohnmacht. Und andersrum folgt aus Aufmerksamkeit und Anteilnahme keine Überforderung, solange man einander zugewandt bleibt und die Lebensfreude nicht vergisst - wenn man sich Problemen und Konflikten so stellt, wie beispielsweise Francis Seeck und Marlene Engelhorn es tun.

Wilke und das Festival

  • Die promovierte Literaturwissenschaftlerin Insa Wilke, geboren 1978 in Bremerhaven, arbeitet als Kritikerin, Publizistin und Moderatorin.
  • Das Mannheimer Literaturfestival Lesen.Hören leitet sie als Nachfolgerin des verstorbenen Roger Willemsen.
  • Lesen.Hören beginnt in diesem Jahr am 24. Februar mit einem Abend über die Ukraine in der Mannheimer Alten Feuerwache und geht am 12. März mit der Schriftstellerin Judith Hermann als Gast am gleichen Ort zu Ende.
  • Info zu Programm und Karten: www.altefeuerwache.com; Telefon 0621/2 93 92 81.

Wie würden Sie den thematischen Horizont des diesjährigen Festivals umreißen?

Wilke: Ich glaube, das ist tatsächlich der Versuch, eine Möglichkeit zu finden, die Stimmung der Angst und Ohnmacht zu brechen. Wir haben den starken Eindruck, dass die gerade vielen Menschen zu schaffen macht und dass in der Literatur, aber auch im Sachbuchbereich Mittel dagegen zu finden sind.

Und kommt ein traditionelles, vor allem an poetisch-literarischer Qualität orientiertes Publikum auch auf seine Kosten?

Wilke: Aber klar! Unbedingt, das sind ja gerade die Mittel, von denen ich spreche. Ich sage nur: Dinçer Güçyeter und Marc Sinan, mein Geheimtipp. Außerdem bin ich überaus gespannt auf den Abend mit Lena Brasch und Helene Hegemann, die ich als Autorin und Persönlichkeit außerordentlich schätze. Zwei junge Stimmen, und die Jüngeren sind doch die Hoffnung, weil sie sich über Widersprüche hinwegsetzen! - Ich zitiere Lena Braschs Onkel Thomas Brasch, dem Marion Brasch ja dieses Jahr auch endlich einen Abend bei uns widmet. Und natürlich sind die Abende mit Arno Geiger und Judith Hermann Literatur pur.

Der aktuelle Buchpreisträger ist erneut auch dabei: Kim de l’Horizon beschreibt sich als queer und transgender bzw. nicht-binär und hat die Preiskür für eine zwiespältig aufgenommene, symbolische Handlung genutzt, nämlich sich die Haare abzurasieren, als Solidaritätsgeste für die Proteste von Frauen in islamischen Ländern, besonders dem Iran. Hat Sie das autofiktional von einer Transgender-Person handelnde „Blutbuch“ auch literarisch überzeugt, oder ist es für Sie vor allem thematisch interessant?

Wilke: „Blutbuch“ weist zwischen den Zeilen und in der Sprache einen ganz ungewöhnlichen literarischen Echo-Raum auf, der mich wirklich überrascht hat. Schließlich ist es ein Debüt. Kim de l’Horizon hat ziemlich lässig mit diesem Buch klar gemacht, wie profund die künstlerische Lebens- und Herzensbildung und auch das Sprachgefühl sein muss, damit so ein Roman entstehen kann.

Der Prominenzfaktor, scheint mir, wurde im Vergleich zu früheren Jahren etwas zurückgefahren. Ich konnte jedenfalls keinen populären TV-Moderator im Programm finden, was man übrigens nicht schlecht finden muss …

Wilke: Darüber kabbeln wir beide uns ja jedes Jahr, und ich bleibe dabei: Wir laden nur Gäste ein, von denen wir künstlerisch und intellektuell überzeugt sind, auf jeweils dann sehr unterschiedliche Weise. Darunter sind bekannte und einem breiten Publikum noch unbekannte Personen. Bekannt wird jemand ja übrigens nicht zufällig. Prominenz spiegelt ja oft auch besonderes Talent und nicht zu vergessen eine besondere Arbeitsbereitschaft. Das ist es dann doch, was Sie und ich als Publikum mit unserer Aufmerksamkeit würdigen. Aber ich streite mich gern weiter mit Ihnen darüber und freue mich ja auch, dass Sie uns darin bestärken, die Neugier des Mannheimer Publikums nicht zu unterschätzen und das Genre „Geheimtipp“ in unserem Programm weiter stark zu machen.

Auch Lesen.Hören hat eine Anregung des Kulturjournalisten Ulrich Rüdenauer aufgegriffen und erinnert an den in Mannheim geborenen und aufgewachsenen Schriftsteller Wilhelm Genazino. Was macht sein Werk in Ihren Augen bleibend aktuell?

Wilke: Die genaue Alltagsbeobachtung. Der unbestechliche und doch auch liebende Blick auf die Schwächen der Menschen. Ich fühle mich von Wilhelm Genazino immer gesehen und aufgehoben.

Redaktion Kulturredakteur, zuständig für Literatur, Kunst und Film.

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