Schauspiel

Saša Stanišićs Buch „Herkunft“ kommt in Mannheim auf die Bühne

Von 
Ralf-Carl Langhals
Lesedauer: 
Die Vier von der Tankstelle (von links): Matthias Breitenbach, László Branko Breiding, Patrick Schnicke und Christoph Bornmüller. © Christian Kleiner

Mannheim. „Wohin du auch in wilder Lust magst dringen,/Du findest nirgends Ruh,/Erreichen wird dich das geheime Singen,/ – Ach, dieses Bannes zauberischen Ringen/ Entfliehen wir nimmer, ich und du!“ Diese beiden (widmungsgemäß sind es Brüder), die Joseph von Eichendorff in seinem Gedicht, einem lyrischen Dialog, titelgemäß über „Die Heimat“ sinnieren lässt, das könnten der Autor und seine Großmutter sein...

Schlicht und ergreifend „Herkunft“ nennt Sasa Stanisic sein mehrfach ausgezeichnetes Buch, das erst in Hamburg und nun in Mannheim in der Fassung und Regie von Johanna Wehner auf die Bühne fand. In dem Maße, indem der nicht nur angekommene, sondern längst auch arrivierte Schriftsteller und Familienvater seine eigene Familiengeschichte zu (be)greifen versucht, lockert die prägende Großmutter den Griff um das, was es an Gefühlswissen festzuhalten gilt: „Als meine Großmutter Kristina Erinnerungen zu verlieren begann, begann ich, Erinnerungen zu sammeln.“

Ein ehrliches Buch

Der einstige bosnische Flüchtling, der als Student in Heidelberg bleiben durfte, während die Eltern nach Amerika weiterziehen mussten, hat ein berührend ehrliches Buch geschrieben, das er nicht Roman, auch nicht Autobiografie nennt. Das – nennen wir es stark biografisch grundierte – Buch über Weg- und Ankommen-Müssen folgt einem ungewöhnlichen Verfahren. Der Autor springt durch Zeitebenen, schweift unter genauer Beschreibung ins Anekdotische, schlägt fantastische Volten, um seine offengelegten Wahrheiten lustvoll zu unterlaufen, indem er Erinnerung als subjektive Wahrheit entlarvt. „Das Betrügerische der Erinnerung“ nennt es Stanisic. Das Hirn spielt Streiche; dem Autor selbst in Sachen Kindheitserinnerungen – und der Großmutter in der tückischen Gestalt von Demenz.

„Diese Geschichte beginnt mit dem Befeuern der Welt durch das Addieren von Geschichten“, heißt es im (begrifflich vielbemühten) „Originaltext“ auch auf der Bühne des Schauspielhauses. Geschichten kann man daher unterschiedlich enden lassen, sogar mit alternativen Wunschenden.

Der Leser und auch das Publikum im Schauspielhaus hat die Wahl. Hier, wo (ein bissschen unnötig und ein bisschen überlang) mit der alles entscheidenden Frage „Woher kommst du?“ und reichlich Publikumsschäkern „ins Stück geschmiert“ wird, ist die dramatisierte Sache auf vier Mimen verteilt: Matthias Breitenbach, László Branko Breiding, Patrick Schnicke und Christoph Bornmüller. Ihnen hat Regisseurin Johanna Wehner das literarische Verfahren des Autors zum szenischen Gestaltungsprinzip umgearbeitet. Das wortgewandte Quartett kommt ohne Figurenzuordnung, aber auch ohne Textflächenteppich aus, schlüpft und spielt und dekoriert anekdotisch vor und zurück, was – cum grano salis – dann doch ein Buch bleibt. Dennoch: Patrick Schnicke spielt eine ganze Schulklasse durch, Matthias Breitenbach zeigt narratives Rückgrat, Christoph Bornmüller große Wandlungsfähigkeit und László Branko Breiding Inbrunst und vollen Körpereinsatz im Reigen um die vermeintlich alles entscheidende Frage.

Die Frage aller Fragen

Woher man kommt, das interessiert die serbische Säuberungsmiliz, die deutsche Ausländerbehörde und den bosnischen Großonkel. Den Jungs von der Aral-Tankstelle im Emmertsgrund (Bühne: Benjamin Schönecker), dem nicht minder legendären Heidelberger Pendant zur „Nachttanke“ im Jungbusch, ist das egal. Hier herrscht Gleichheit in der Fremde – und minimaltröstlicher Glamour jugendlichen Nachtlebens, weshalb Kostümbildnerin Ellen Hofmann die Herren in verheißungsvollen Glitter gewandet haben mag. In der Summe von exakt zwei pausenlosen Stunden ist das nicht ohne Längen und Durchhänger – aber stets von großer Zartheit und Herzenswärme, zu der atmosphärisch auch die perlenden Pianoklänge und musikalischen Balkantraurigkeiten von Vera Mohrs und Kostia Rapoport beitragen.

„Jedes Zuhause ist ein zufälliges“ lernen wir, doch die Frage nach Heimat ist auch nach 360 Seiten nicht ganz geklärt. Oma, die Fleisch und flüchtig gewordene Heimat, weiß Rat: „Es zählt nicht, wo was ist. Oder woher man ist. Es zählt, wohin du gehst. Und am Ende zählt nicht mal das.“

Sasa Stanisic – „Feuergriffel“ und Bestseller-Autor

Sasa Stanisic (Bild) wurde 1978 in Visegrad (damals Jugoslawien) geboren. Während des Bosnien-Kriegs flüchtete er mit seinen Eltern 1992 nach Deutschland. Er wohnte länger in Heidelberg, wo er auch studierte; im Jahr 2013 erhielt er das Mannheimer „Feuergriffel“-Stipendium. Heute lebt er in Hamburg.

Sein Debütroman „Wie der Soldatdas Grammofon repariert“ wurde in 31 Sprachen übersetzt und 2018 am Nationaltheater inszeniert. Auch „Vor dem Fest“ wurde ein Bestseller und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse geehrt. Für „Herkunft“ erhielt er 2019 den Deutschen Buchpreis und den Usedomer Literaturpreis.

Im August adaptierte Sebastian Nübling Stanisics Buch am Hamburger Thalia Theater für die Bühne. Am NTM übernahm das Johanna Wehner.

Weitere Aufführungen am 27. und 29. September sowie am 3. Oktober im Schauspielhaus. Karten gibt es unter 0621/1680 150. rcl

Redaktion Seit 2006 ist er Kulturredakteur beim Mannheimer Morgen, zuständig für die Bereiche Schauspiel, Tanz und Performance.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen