Mannheim. In ihrer Geschichte erzählt die Schriftstellerin und Journalistin Anja Tuckermann von Deutschland. Deutschland sei „ein langsames Land“, so beginnt die Erzählung „Wintersonne“, alles geschehe zu seiner festen Zeit. In einfacher, fast schon kindlich-schlichter Sprache geht es um die „Neuen“, also frisch zugezogene Nachbarn im Parterre, die eigentlich keiner so richtig wahrnimmt. Nur ein alter Nachbar nähert sich den „Neuen“ etwas an, erzählt ihnen von sich und seinem Leben.
Aber verstehen sie ihn auch? Immerhin Maksym, das Kind der Neuen, lernt etwas Deutsch und beginnt mit Walter, dem alten Nachbarn, einen Austausch über Flucht, denn beide haben eine Flüchtlingsvergangenheit, die viel mit Trauer, Sehnsucht und Einsamkeit zu tun hat. Erst eine Art künstlerische Aktion führt zu einer gewissen Annahme des Schicksals: Beide, Walter und Maksym, malen schließlich ein Stück alte Heimat an die Wände der neuen Heimat – und überwinden damit ein Stück weit den Verlust eines Stücks Leben, das nie wiederkehren wird.
Frau Tuckermann, hat Ihre Geschichte „Wintersonne“ eigentlich etwas mit Weihnachten zu tun?
Anja Tuckermann: Ja. In der Weihnachtszeit werden wir durch die Weihnachtsgeschichte von Maria und Josef auf der Suche nach Obdach alljährlich daran erinnert, was für Folgen Egoismus und Gleichgültigkeit haben. Wintersonne erzählt von Liebe und Fürsorge, wie beide zum Leben gebraucht werden und vielleicht auch Wunden heilen können. Und wie solche Beispiele auch andere unterstützen und zu Nachahmung ermuntern können.
Wie nah ist Ihnen solches Flüchtlingsleid? Kennen Sie denn jemanden persönlich, der geflüchtet war und eine Bleibe gesucht hat? Haben Sie selbst schon geholfen?
Tuckermann: Ich finde es unerträglich, dass mit Wissen aller europäischen Institutionen Menschen auf dem Mittelmeer und an den befestigten Grenzen sterben gelassen werden. Europa steht in der Verantwortung für diese Toten. Dass unschuldige flüchtende Menschen in Polen monatelang in Haft behalten werden, in Ländern wie Griechenland, Bosnien, Frankreich, Italien oder Belgien in Slums oder auf der Straße hausen müssen, in Bulgarien und Rumänien misshandelt werden. Es werden in Europa und an den Grenzen die fundamentalsten Menschenrechte missachtet.
Was tun Sie dagegen?
Tuckermann: Ich unterstütze einzelne Menschen. Und mit der Historikerin Kristina Milz habe ich das Buch „Todesursache: Flucht“ herausgegeben, eine Liste von fast 50 000 Toten, die auf der Flucht nach oder in Europa starben. Im Gespräch mit Überlebenden haben wir Namen von Toten recherchiert und Porträts einiger Menschen geschrieben. Wir arbeiten gerade an der 3. Ausgabe, die im Juni 2023 erscheinen soll.
Ich sehe schon, das Thema ist Ihnen eine Herzensangelegenheit...
Tuckermann: Absolut. Ich unterstütze einige geflüchtete Afrikaner im Asylverfahren, bei Ämtern und in anderen Lebensdingen, soweit ich das überhaupt kann. Und natürlich sind auch schöne Freundschaften entstanden. 2014 habe ich einen Eritreer bei mir aufgenommen. Wir haben ein Bilderbuch zusammen geschrieben: Vier Ochsen. In all den Jahren habe ich viel gelernt, mein Vertrauen in Behörden und Polizei ist erschüttert. Ich finde es unglaublich, wie hier Menschen im Gestrüpp der Bürokratie mitunter zermürbt werden, anstatt dass man ihnen bei schneller Eingliederung hilft, die uns allen zugutekäme.
Anja Tuckermann
- Die Autorin: Anja Tuckermann, geboren 1961 in Bayern, ist in Berlin aufgewachsen, wo sie heute lebt. Sie arbeitete bei einem Treffpunkt für Mädchen, als Redakteurin beim RIAS Kinderfunk und ist seit 1992 freiberufliche Autorin. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Libretti für Erwachsene, Kinder und Jugendliche. Ihre Werke wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis.
- Die Werke: Seit 1988 sind mehr als 50 Werke, Belletristik, Sachbücher, Dramen, Hörbücher und Musik-Text-Formate, erschienen. dms
Zurzeit gibt es ja vor allem auch Flüchtlinge aus dem Osten...
Tuckermann: Ja, die Zahl von geflüchteten Menschen, die aus anderen Ländern als der Ukraine kommen, ist gering. Aktuell beschäftigen mich fünf afghanische Kinder, die nach der Machtübernahme der Taliban mit der Mutter zu Fuß nach Pakistan geflohen waren. Dort starb die Mutter und die Kinder blieben allein zurück. Der Vater war von den Taliban ermordet worden. Der volljährige Bruder der Kinder lebt und arbeitet in Deutschland, doch es scheint schier unmöglich, die Waisen zu ihm zu holen.
Wo sehen Sie die Wurzel des Problems?
Tuckermann: In Deutschland gibt es immer noch diese Politik des Wegduckens und der Verhinderung von Zuwanderung, als hätte Abschottung uns je zum Vorteil gereicht. Das Gegenteil ist der Fall. Diese behäbige Unwilligkeit, die schutzbedürftigen Menschen schnell anzunehmen, richtet emotionalen und wirtschaftlichen Schaden an. Die aus der Ukraine Geflüchteten werden zum Glück ganz anders empfangen. Das gegeneinander Ausspielen verschiedener Flüchtlingsgruppen von Behördenseite schadet ebenso. Wenn der Mitarbeiter einer Ausländerbehörde abfällig über die jungen Männer spricht, die hier ankämen und ihre Frauen im Stich ließen im Gegensatz zu den Ukrainerinnen – sollte man besser nachdenken, bevor man redet. Männer, die eine lebensgefährliche Fluchtroute auf sich nehmen müssen, möchten ihre Frauen oder Schwestern nicht gefährden.
Für Frauen ist Flucht natürlich noch gefährlicher.
Tuckermann: Frauen, die über Libyen und das Mittelmeer kommen, müssen alle mit Vergewaltigung rechnen. Also, das Flüchtlingsleid geht mir nah, denn ich erlebe tagtäglich, was die einsamen jungen Menschen für Träumen und Talente und wie sie hier zu kämpfen haben. Man muss sie ja nicht lieben, aber wenn man nicht helfen möchte oder kann, warum ihnen dann Steine in den Weg legen?
In Ihrer Geschichte spielt als Ziel einer Flucht auch die Fantasie und Kunst eine Rolle. Können sie den Prozess einer Heimatschaffung tatsächlich beschleunigen?
Tuckermann: Da bin ich ganz sicher. Fantasie birgt die Möglichkeit, sich eine andere Wirklichkeit vorzustellen, sich das Leben verändert zu erträumen und zu verbildlichen. Wer sich etwas anderes vorstellen kann als das, was ist, erweitert seine Handlungsmöglichkeiten. Mit der Kunst drückt man sich aus, erschafft etwas, was zu einem Symbol einer Erfahrung wird und ist unversehens im Leben schon einen Schritt weitergegangen. Besonders schön ist es natürlich, wenn die eigene Kunst und Fantasie mit anderen Menschen geteilt werden kann.
Und die Literatur? Sie hat es schwerer, weil sie sprachlich beherrschbar sein muss. Ist Ihr Schreibstil auch deswegen gezielt einfach verständlich, damit möglichst viele alles verstehen?
Tuckermann: Für die Literatur gilt das Gleiche wie für die Bildende Kunst. Mit der Sprache kann ich Bilder erwecken und beleben, kann die Wirklichkeit erweitern und Spielräume öffnen. Auch die Sprache ist sinnlich und jede Art von Poesie berührt im besten Fall in irgendeiner Weise Sinne und Gedanken. Manchmal genieße ich die Knappheit – in der größtmöglichen Kürze so viel zu sagen wie möglich. Knapp zu schreiben dauert länger, als mit vielen Worten etwas auszudrücken. Ich feile sehr lange an meinen Texten herum, damit sie komplex und vielschichtig sind und gleichzeitig die Sprache zugänglich ist und nicht ausschließt.
Wäre dafür ein Begriff wie etwa inklusive Literatur zutreffend? Ich meine, im Gegensatz zur exklusiven Literatur, die kompliziert ist und eigentlich nur für gebildete Muttersprachler zugänglich …
Tuckermann: Man könnte es so nennen. Ich habe kein Etikett dafür, möchte aber auch die kompliziertesten Vorgänge so durchsichtig und klar formulieren, dass sie eindringlich werden, ins Bewusstsein dringen. Das bedeutet nicht, dass alle Leserinnen und Leser alles oder alles in gleicher Weise verstehen. Außerdem soll die Sprache auch manchmal überraschen oder Spaß machen. Für jedes Thema muss ich einen eigenen sprachlichen Zugang finden. Hier in der Geschichte sind Menschen Hauptpersonen, die zunächst gar kein Deutsch sprechen …
… die es aber doch fehlerfrei tun …
Tuckermann: … ja, wenn die Personen in einer Erzählung verschiedene Sprachen sprechen, ist da die Schwierigkeit der Perspektive. Ich kann keine andere Sprache einfügen, wenn ich davon ausgehe, dass die Leserinnen und Leser nur deutsch lesen, kann aber doch erzählen, dass die Personen sich nicht verstehen. Das Problem hatte ich auch in meinem Buch „Mano – Der Junge, der nicht wusste, wo er war“ zu lösen. Da geht es um ein Kind, das mehrere KZs überlebt hatte, 1945 von befreiten Französinnen gerettet und mit nach Frankreich genommen wurde. Die Erwachsenen verstanden den Jungen nicht, der Junge die Erwachsenen nicht – da habe ich jeden Versuch der strengen Erzählperspektive über Bord geworfen. Wer das Buch liest, weiß mehr als alle Personen im Buch, durch den Gedankenstrom des Jungen, eingeschobene Erzählungen der Erwachsenen, Dialoge in der Handlung, Originaldokumente, die die Geschichte weitertreiben, aber den handelnden Personen gar nicht bekannt sein können. Erst wenn die Personen eine gemeinsame Sprache haben, sprechen sie miteinander.
Glauben Sie eigentlich, dass Literatur, dass Sie mir Ihrer Literatur etwas bewirken – also nicht konkret, aber gewissermaßen subkutan, also unter der Haut?
Tuckermann: Ja, ein Buch kann Teil der eigenen Lebenserzählung werden, manche Leute heben Bücher, die für sie wichtig waren wie alte Freunde auf. Zu solchen Bücher hat man eine Verbindung, manche Sätze und die enthaltene Welterfahrung können einen für immer begleiten. Wenn ich überraschen, verwirren, zum Lachen, zum Weinen, zum Denken und Fragen bringen kann, Einblick geben, wo ich Einblick gewonnen und davon erzählt habe, Dinge verknüpfen, Zusammenhänge herstellen, neue Sichtweisen ermöglichen kann, dann habe ich mit meiner Literatur etwas bewirkt. Ich freue mich, wenn Leute mit wachen Sinnen und Verstand lesen, ich möchte nicht einlullen.
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