Ein Stück Kreide spielt die Hauptrolle in Sofia Gubaidulinas „Märchenpoem“. In der Hand eines Jungen lassen sich dank ihm kunterbunte Welten entwerfen, die das SWR Symphonieorchester auf fantasievolle Weise verklanglicht. Ein ästhetisch reizvoller Auftakt für ein Konzert, das das Reich der Poesie aus unterschiedlichen Perspektiven erkundet und jenem Freiheitsimpuls folgt, den die in den 1970er Jahren unter strengem sowjetischem Reglement arbeitende russische Komponistin auch mit einem politischen Akzent versah.
Fantastische Klangwelten mit verspielter Expressivität und in teils unwirklich scheinender flirrender Stimmung
Was der Musik an optischen Darstellungsmöglichkeiten fehlt, macht sie durch Klangfarbenreichtum wett. Diese werden im Dirigat Eva Ollikainens in schillernden, pastosen, grellen und bunten Valeurs beleuchtet. Zwar hat die finnische Orchesterleiterin kein Kreidestück in der Hand, doch mit Händen entwirft sie fantastische Klangwelten mit verspielter Expressivität, in einer teils unwirklich scheinenden flirrenden Stimmung. Im Zusammenspiel von Harfe, Vibrafon und Klavier entstehen lyrische Momente, die mit jenen Dissonanzwirkungen kontrastieren, die das Kratzen und Quietschen von Kreide auf Schiefer assoziieren mögen.
Ollikainen hat den Dirigentenstab ergriffen, nachdem der künftige Chef des SWR Symphonieorchesters François-Xavier Roth, im Zuge einer MeToo-Affäre sämtliche Konzerte dieser Spielzeit abgegeben hatte. Das geplante Programm mit Werken Arnold Schönbergs entfiel; dafür war Renaud Capuçon in Mannheim mit dem Violinkonzert des noch sehr jungen Richard Strauss zu erleben, das sich einer Mozart’schen Melodiösität erfreut, wie sie die Flöte gleich zu Beginn in Szene setzt.
Renaud Capuçons Spiel scheint von einer Art des Nachsinnens bestimmt zu sein
Allerdings hat der Franzose höchste technische Schwierigkeiten zu bewältigen wie zahlreiche doppelläufige Sequenzen. Capuçon tariert sein Spiel zwischen affirmativer Teilhabe und solistischer Emphase - ohne melodramatische Attitüde, aber keineswegs kühl distinguiert. Solo- und Orchesterrollen sind sorgsam aufeinander abgestimmt; eine hohe Empfindsamkeit auf beiden Seiten lässt diese Musik fein knistern. Während das Orchester mit einer enormen Umschaltflexibilität beeindruckt, scheint Capuçons Spiel von einer Art des Nachsinnens bestimmt zu sein, die den Vorrang vor der subjektiven Aneignung genießt. Mit der Etüde aus Strauss’ Tragödie „Daphne“ als Zugabe setzt der Geiger einen Schlusspunkt, der die Schlichtheit dieses Instrumentalstücks nobilitiert.
Die Schichten in Jean Sibelius’ ebenso selten gespielter fünfter Symphonie staffelt das Orchester unter der engagierten Leitung Ollikainens in klar strukturierte Tableaus. Auch in seiner dynamischen Opulenz wirkt der symphonische Orchesterklang nicht undurchsichtig. Ollikainen moderiert stark bewegte Prozesse und wechselnde Klangproportionen mit Übersicht, meißelt Bruckners skulpturale Monumentalität wie mit dem Seziermesser heraus und ist selbst auf kleinste artikulatorische Details bedacht. Auch die kontrapunktischen Verflechtungen bilden sich ornamentaler Gravur ab, und die romantisch-apotheotischen Verdichtungen gegen Ende werden ohne Brachialgewalt als Höhepunkte inszeniert.
Die Schlusskadenz hat nicht die triumphale Wirkung vom Schlage Beethovens. Sie wirkt eher zögerlich - ein Zitat klassischer Formprinzipien mit parodistischer Note.
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