Literatur

Thomas Pynchon widmet sich in „Schattennummer“ aufkommendem Faschismus der 1930er

Thomas Pynchons neuer Roman „Schattennummer“ entführt ins so faszinierende wie faschistoide Europa der 1930er mit Spionage, Intrige und Antisemitismus.

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Das ist nicht der Schriftsteller Thomas Pynchon. Es ist die von KI generierte Illustration, die entstanden ist mit der Anfrage: Zeige mir den 88-jährigen Schriftsteller Thomas Pynchon in seiner Lebensumgebung an der Upper West Side in New York, wie er vor der Kulisse von Gebäuden mit einem Laptop auf einer Parkbank sitzt und arbeitet. © Stefan M. Dettlinger mit KI

Das Phantom hat wieder zugeschlagen. Seine Arbeit hat es wieder so sorgfältig und kaltblütig erledigt, dass jede kriminaltechnische Spurensuche im Nichts verläuft. Auch dieses Mal wird es nur zu einem schlappen Indizienprozess reichen. Wer der Sache ganz auf den Grund und dem Autor auf die Schliche kommen will, opfert entweder sein ganzes Leben und forscht. Oder er opfert den Spaß am Lesen, am sich Treibenlassen durch ein Kaleidoskop der Bilder, Gedanken, Orte und Zeiten. Alles dazwischen, ist müßig.

Klar, es geht um Thomas Pynchon, und für die, die ihn nicht kennen: Thomas Pynchon ist so etwas wie der Banksy der Weltliteratur. Alle paar Jahre schlägt er mit einem neuen Roman zu. In der Regel zwischen 300 und 1300 Seiten dick. Keiner weiß, wer er ist, wo genau er lebt, wie er aussieht und was er in all den Jahren zwischen zwei Büchern so treibt. Das letzte Bild von Pynchon ist in Schwarzweiß, verpixelt und aus einem anderen Jahrhundert. Der 1937 geborene US-Amerikaner, seit Jahrzehnten Stammkandidat auf der Shortlist für den Literaturnobelpreis, blickt darauf als junger Mann mit markanten Schneidezähnen und abstehenden Ohren in die Kamera.

Von Milwaukee bis Wien: Hicks‘ abenteuerliche Jagd

Schwarzweiß wäre auch die Perspektive in seinem neuen Roman „Schattennummer“, mit dem Pynchon uns zusammen mit dem Privatdetektiv Hicks Mc Taggart auf eine wilde Reise ins präfaschistische Europa mitnimmt. Hicks, ein scheinbar durchschnittlicher Typ mit durchschnittlicher Attraktivität und durchschnittlichen Fähigkeiten jagt von Milwaukee und Chicago aus einer überdurchschnittlich attraktiven, überdurchschnittlich gerissenen und überdurchschnittlich reichen Erbin eines Käse-Imperiums hinterher: Daphne. Es geht über Transsilvanien, den Balkan, die Adria und Ungarn nach Wien, aber nicht wieder zurück in die Staaten, denn Hicks, so viel versteht man dann doch, endet irgendwie in der Nähe eines in Fiume (Rijeka) aufgetauchten Spionage-U-Boots namens U-13 im Geknutsche mit einer Dame namens Terike. Er wird wohl hier bleiben, in Jugoslawien. Sein Chef in der Heimat, Skeet, bemerkt am Ende: Das verstehst du also unter „nur kurz weg und gleich wieder da?“

Thomas Pynchon

Zur Person: 1937 auf Long Island, New York, geboren, gilt Thomas Pynchon als einer der bedeutendsten und zugleich rätselhaftesten US-Schriftsteller der Gegenwart.

Romane: „V.“ (1963) „Die Versteigerung von No. 49“ (1966), „Die Enden der Parabel“ (1973), „Vineland“ (1990), „Mason and Dixon“ (1997), „Gegen den Tag“ (2006), „Natürlioche Mängel (2009), „Bleeding Edge“ (2013), „Schattennummer“ (2025, Rowohlt. 400 Seiten, 26 Euro).

Stil: Pynchons Romane sind berühmt für komplexe, verschlungene Plots, schwarzen Humor und das Spiel mit Verschwörungstheorien, obskuren Wissenschaften und Künsten. Seine Figuren tragen skurrile Namen und bleiben oft bewusst konturlos. Pynchon fordert seine Leser heraus, macht sich rar und verweigert öffentliche Auftritte – seine Identität bleibt legendär verborgen. Dennoch hat er mit satirischen Gastauftritten, etwa bei den Simpsons, seinen Humor bewiesen.

Unser Bild: Die KI-generierte Illustration von Thomas Pynchon wurde mit diesem Prompt generiert: „Zeige mir den 88-jährigen Schriftsteller Thomas Pynchon in seiner Lebensumgebung an der Upper West Side in New York, wie er vor der Kulisse von Gebäuden mit einem Laptop auf einer Parkbank sitzt und arbeitet.“

Was dazwischen literarisch passiert, ist eine wahre Odyssee auf 400 Seiten. Wir begegnen so ziemlich allem, was sich um 1932 in Europa an politischen Strömungen, Menschen, Möchtegern-Mussolinis, Musikrichtungen, Drogen, Schrecklichkeiten und technischen Erneuerungen findet. Der Antisemitismus ist so omnipräsent wie seine Juden-Jäger, die man sich hier fast vorstellt wie Christoph Waltz’ aus Tarantinos Meisterwerk „Inglourious Basterds“. Der Faschismus rollt an und macht sich bereit, den schönen alten Kontinent Europa mit Hass und Krieg zu überziehen und zu zerstören.

Natürlich passieren Tausende Dinge in „Schattennummer“, oft in einem kunterbunten assoziativen Fluss wie in James Joyces „Ulysses“, Beispiel: „Abtrünnige Nonnen in Zivilklamotten tanzen Two-Step mit bombenwerfenden marxistischen Guerilleros. Tollkühne faschistische Piloten spielen Poker mit Veteranen der Yangtse-Patrouille, die glauben, dass Flugzeuge nur dazu gut sind, abgeschossen zu werden. Wagner-Soprane lernen Hillbilly-Akkorde von Wabash Cannonball.“

Das alles ist immer wahnsinnig witzig, absurd, überraschend, ausschweifend und vor allem: historisch irrsinnig gut recherchiert. Pynchon forscht vermutlich sehr viel und überwiegend, seine für den Normallesenden fast unüberprüfbare Detailkenntnis des alten Europa ist frappierend. Wie mit einem Mikroskop fährt er auf Tuchfühlung mit seinen Orten, Bratislava, Budapest, Transsilvanien oder eben Rijeka. Ähnlich war ja schon in seinem Meisterwerk von 1973 „Enden der Parabel“ der Fall über die Spätphase des Zweiten Weltkriegs und die Entwicklung der deutschen V2-Rakete.

Was man greifen will, entwischt einem, und sei es die Wahrheit

„Schattennummer“ schließt aber eher an seinen großen Erstling „V.“ an, in dem der Schlemihl Benny Profane und sein Gegenpart Herbert Stencil einer geheimnisvollen Frau mit dem Initial „V“ durch die Welt und Jahrhunderte bis Europa und Afrika folgen, nach Malta und Ägypten – und naturgemäß nicht fündig werden. In „Schattennummer“ sucht eben Hicks die in mafiöse Geschäfte verwickelte Käse-Erbin Daphne, hat eine Affäre mit ihr, bevor sie ihm immer wieder entwischt, weil einem eben das, was man greifen will, immer entwischt, und sei es die Wahrheit.

Pynchons Roman ist Literatur, die mitunter mehr von Musik hat als von logischen Sinnzusammenhängen. Die literarische Welt fließt vor dem inneren Auge dahin und versetzt einen in einen fasziniernd-bunten LSD-Rausch, in dessen Klarphasen man stets die Verschwörung der großen Apparate, der Regierungen, Geheimdienste, Industrien gegen den Menschen, gegen das Individuum spürt. An einer Stelle des Buchs wird Hicks geraten, den Beruf zu wechseln und sich auf „Internationale Intrigen“ zu spezialisieren. Hicks antwortet darauf trocken: „Hört sich nach Regierungsarbeit an.“

Insofern ist es für Pynchon nach seinem etwas leichteren Detektivroman „Bleeding Edge“ eine Rückkehr zu seinen Wurzeln: Das besondere Erzählmerkmal ist, dass ein Plot sich nicht schließt, sondern entropisch im Erzählraum verteilt. Die Energie verteilt sich gleichmäßig. Kein Bad-End, aber ein Anti-Happy-End.

Das Getriebe der Sinnlosigkeit entlarvt Strukturen

Wieder einmal genügt hier bei Pynchon ein System sich selbst, ein Mechnismus, ein Getriebe, und am Ende weiß keiner mehr, wozu er was eigentlich genau tut oder getan hat. Es ist der Irrsinn von großen Strukturen, die Pynchon fast paranoid, zumindest aber mit einem Schuss Verschwörungstheorie demaskiert und, ja, als Schattennummer darstellt. Am Ende bleibt hier viel heiße Luft, ein Brief und ein zärtlicher Kuss, der ein Phantomgefühl hinterlässt.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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