Mannheim. Herr Wandjo, Herr Dahmen, Sie haben die Popakademie gegründet und gut 20 Jahre lang geleitet – wie fällt Ihre Bilanz aus?
Hubert Wandjo: Es war eine der schönsten und spannendsten Zeiten in meinem Leben. Aber Jobs, wie wir sie haben, trennen sich nicht so sehr in privat und beruflich. Das geht ineinander über. Ich habe hier miterleben wie mitgestalten dürfen und bin sehr zufrieden mit dem, was wir erreicht haben. Das war an Tag eins so nicht zu erwarten.
So? Sie wirkten damals sehr positiv.
Wandjo: Es gab ja durchaus Bedenkenträger im Land und bei den Akteuren außenrum. Wir waren nicht grundsätzlich finanziert, sondern aus diversen Töpfen. Und wir wissen auch, dass die Herrschaften aus dem Staatsministerium in Stuttgart genau geschaut haben, wie sich das entwickelt. Bei einer weniger erfreulichen Entwicklung hätte man das auch wieder sein lassen können. Aber im Gegenteil: Wir haben immer große Unterstützung erfahren in den 20 Jahren von allen Akteuren, weil sie selbst gesehen haben, dass es funktioniert. Und für uns war das eine traumhafte Arbeitssituation. Man hat uns gewähren lassen, weil es eben funktioniert hat. Es musste von keiner Seite gestaltend eingegriffen werden, sei es vom Aufsichtsrat oder anderen Gremien. Wir hatten große Freiheiten, die wir meines Erachtens auch zugunsten der Einrichtung genutzt haben.
Wir versuchen nicht hinter einem Trend herzulaufen, sondern Trends mitzugestalten.
Herr Dahmen, Sie sind ja noch aktiv. Ist Ihre Bilanz auch traumhaft?
Udo Dahmen: Von meiner Seite kann ich das nur bestätigen. Die Popakademie ist eine Erfolgsgeschichte. Das macht sich daran fest, dass wir auf europäischer Ebene sicherlich zu den Spitzeneinrichtungen gehören – und inzwischen auch weltweit. Wir haben ja Kontakt zu vielen anderen Hochschuleinrichtungen und vergleichbaren Institutionen. Die Popakademie mit ihrer praxisnahen Ausbildung und vor allem auch der Verzahnung von künstlerischen und Musikbusiness-Studiengängen samt ihrer internationalen Vernetzung und im Land selbst, ist sicherlich einzigartig. Das war das Modell, mit dem wir angetreten sind. Das hatte auch etwas von einer „Self fulfilling Prophecy“, die wir relativ schnell einlösen konnten. Das Ganze ist dann gewachsen. Wir sind ja mit zwei Bachelor-Studiengängen angetreten, haben dann relativ schnell Master-Studiengänge angeboten und dann noch einmal einen Weltmusikstudiengang draufgesetzt. Und darüber hinaus viele Initiativen in beiden Studiengängen, die für uns zukunftsvisionär waren.
Zum Beispiel?
Dahmen: Das betrifft in meinem Bereich die internationale Vernetzung mit vielen Hochschulen, etwa in Camps. Aber auch Meetings und Konferenzen, die für uns bis heute äußerst wichtig sind und die für uns viel von der Dynamik ausmachen. Wir versuchen nicht hinter einem Trend herzulaufen, sondern Trends mitzugestalten. Nur ein Beispiel: Die Songwriting-Camps haben wir 2005 in einer sehr frühen Phase begonnen, als sie auch von der Industrie angeboten wurden. Da waren wir früh mit dabei, wie man so etwas modern gestaltet, und hatten viele erfolgreiche Komponisten unter anderem aus den USA, Großbritannien oder Schweden dabei, die diese Art der Kollaboration unter Kreativen gut vermitteln konnten.
Vor dem Start der Popakademie 2003 saßen wir mit Ihrem damaligen Mitstreiter Dirk Metzger und meinem Kollegen Georg Spindler beim Vorab-Interview. Hätten Sie damals erwartet, dass Sie in Mannheim in Rente gehen – beziehungsweise die Pensionsgrenze weit überschreiten?
Wandjo: Also ich nicht.
Dahmen: Nein. Natürlich haben wir uns damals vorgestellt, dass wir etwas aufbauen, was möglicherweise auch weit über uns selbst hinausgeht. Es hätte auch sein können, dass wir nach fünf Jahren einen gut aufgebauten Zusammenhang hinterlassen. Aber wir haben schon nach drei Jahren gemerkt, dass das auch eine größere Perspektive hat.
Wandjo: Wir hätten auch schon vor fünf Jahren in Rente gehen können. Das wäre der eigentliche Zeitpunkt gewesen, aber man hat uns gebeten von Ministeriumsseite, noch fünf Jahre dranzuhängen. Ich habe Ende 2020 mit 70 Jahren an Michael Herberger übergeben, Udo macht noch etwas weiter.
Herr Dahmen, wie aus Stuttgart zu hören ist, hat sich in der zweiten Bewerbungsrunde jemand gefunden, mit dem zurzeit verhandelt wird. Wann ist für Sie Schluss?
Dahmen: Da ich in das Verfahren nicht involviert bin, kann ich dazu nichts sagen. Mir macht es weiterhin so viel Spaß, dass ich gern weiterarbeite, so lange ich gebraucht werde. Ich gehe davon aus, dass ich bis zum Sommer 2023 noch im Amt bin.
Was sehen Sie beide als größte Erfolge Ihrer Ära in Mannheim?
Wandjo: Über dem Artikel zu meinem 70. Geburtstag stand: „Der Kopf hinter der Mannheim-Mafia“. Das trifft es, weil viele von unseren Leuten heute an Schaltstellen im Musikgeschäft sitzen. Die ersten Musikbusiness-Absolventen sind uns schon früh aus den Händen gerissen worden. Und es hört ja nicht auf. Irgendwann füttert sich ja das System selbst. Man verliert auch langsam den Überblick, weil vieles längst ohne unser Zutun passiert. Am Anfang haben wir noch selbst Leute empfohlen. Heute geht das ganz automatisch, weil wir als Quelle für Nachwuchs gesehen werden. Die Popakademie ist wie ein Empfehlungsschreiben in der Musikwirtschaft. Da wirst du erst einmal sehr positiv betrachtet.
Dahmen: Für mich sind es die offenen Systeme, die offenen Lehrzusammenhänge, auch die Prozesse, die wir im künstlerischen Bereich von Anfang an verfolgen. Ich habe ja schon 20 Jahre Erfahrung mitbringen können aus dem sogenannten Popkurs in Hamburg. Und manche Dinge, die wir dort gelernt haben, konnte ich hier anwenden, mit einer anderen Vertiefung natürlich.
Können Sie das konkreter fassen?
Dahmen: Es geht um das Sich-Entwickeln-Können in einem geschützten Raum. In einem Zusammenhang, in dem jeder Künstler und jede Künstlerin experimentieren kann, ohne von uns begrenzt zu werden durch eine ästhetische Richtung. Ich würde das anwenden auf alle Talente in allen Bereichen. Dazu muss man wissen: Wir haben über 50 Bands und etwa 30 Studioteams bei uns im Haus. Diese Breite war für mich schon immer entscheidend – und von außen nicht immer so wahrnehmbar, weil man am Anfang geglaubt hat, wir sind so eine Mainstream-Einrichtung. Aber das hat sich schnell geändert, weil auch entsprechende Absolventen da waren. Man denke nur an Konstantin Gropper. Das ist dann eine Seite des Zusammenhangs und die andere ist die, dass viele Instrumentalistinnen in vielen Bands sowohl national als auch international unterwegs sind. Zum Beispiel die Schlagzeuger, die etwas herausstechen. Ich habe selbst viele davon unterrichten dürfen. Ich habe darüber hinaus versucht, dasselbe für die anderen Instrumente zu tun.
Aber von den Popmusikdesign-Absolventen trägt niemand das Etikett Popakademie plakativ vor sich her. Woran liegt das?
Dahmen: Das hat mit der journalistischen Betrachtung von Künstlern zu tun. Die Denke herrscht noch vor, Künstler kämen aus einer subkulturellen Umgebung und sind Autodidakten. Diese Sichtweise halte ich nicht mehr für zeitgemäß. Natürlich gibt es Autodidakten, aber genauso auch welche, die ihr Handwerk in Einrichtungen perfektioniert haben, auf welchem Weg auch immer. Die Popakademie ist in ihrer Ausstrahlung auch besonders. Auf der anderen Seite scheuen sich viele in ihrer ersten Phase davor, dies vor sich herzutragen. Das ist aber heute überhaupt nicht mehr so.
Was hätte in den 20 Jahren denn besser laufen können?
Dahmen: Mir fällt es schwer, zu sagen, was wir im Verlauf hätten besser machen können. Wir sind immer tätig geworden, wenn wir das Gefühl hatten, hier müssen wir noch einmal neue Wege beschreiten. Das war 2014 so im Bereich Producing mit der Förderung elektronischer Musik, weil wir das Studium als dynamischen Prozess verstanden haben. Indem wir die Fühler immer früh stark ausgestreckt haben, zu dem, was aktuell passiert. Und auch in der Vernetzung: Neue Institutionen und Menschen kennen zulernen, die nach unserer Auffassung bei uns unterrichten sollten oder wir als FreundInnen für das Haus gewinnen können. Da waren wir beide sehr ehrgeizig, die richtigen Leute zu erwischen, und auch viel unterwegs, um das möglich zu machen.
Wandjo: Mir fällt dazu ein, dass wir vielleicht früher unsere Frauen in den Studiengängen deutlicher nach vorn hätten schieben müssen. Jetzt, wo wir das machen, kommen auch Frauen verstärkt in Führungspositionen in der Musikindustrie, die aus unserem Haus kommen. Die hatten wir im ersten Jahr gar nicht. Obwohl wir anfangs schon auch darauf geachtet haben. In den ersten zwei, drei Jahren hatten wir 25 bis 30 Prozent Frauen. Als wir mehr darauf geachtet haben, waren wir schnell bei bis zu 60 Prozent im Master-Studiengang. Das schlägt sich jetzt nieder.
Wie bewerten Sie den Stellenwert der Popakademie – national konkurrenzlos? Und international?
Wandjo: Es gibt in meinem Bereich hierzulande fünf weitere Häuser. Die Qualität ist eine andere Frage. Laut FU Berlin waren wir die Benchmark für alle anderen, was den Erfolg und das Ausbildungskonzept angeht. Kleine Strukturen mit enger Betreuung, Praxis- und Projektorientierung. Das gefällt uns natürlich, wenn das auch von wissenschaftlicher Seite bestätigt wird. Manche, die woanders Bachelor gemacht haben, kommen dann zu uns in den Master, weil sie den Popakademie-Stempel haben oder den Praxiszusammenhang wollen. Denn oft sind andere Hochschulen verbunden mit einem Musikwissenschaftsstudiengang und bieten wenig Praxis. International sieht es anders aus: In England und USA gibt es diese Schulen schon seit den 70er oder 80er Jahren. In den USA gibt es 40 Studiengänge zu Musikbusiness. Das ist da schon Tradition. Auch in Schweden ist Pop ein wichtiges Exportgut. Das Zusammenwirken des Künstlerischen Bereichs mit dem Management-Bereich gibt es aber auch im Ausland nicht in der Form. Und das ist das Profil, das uns auszeichnet. Das macht viel aus, das Zusammenstudieren. Sich gegenseitig Rausbegleiten in die Szene. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal.
Dahmen: In meinem Bereich gibt es international große Unterschiede. Aber auch in dem Zusammenhang sind wir ein besonderes Modell. In England zum Beispiel sind die Studiengänge stark vom Repertoire getrieben. Bei uns ist die eigene Kreativität entscheidend. Wir wollen das Bauhaus der Popmusik sein mit starker Vernetzung in alle Richtungen.
Wandjo: Bei mir ist die Uni Mannheim ein Vorbild, der BWL-Studiengang, den ich selbst absolviert habe. Sie war die Nummer eins, weil sie praxisorientiert war. Mein Professor sagte mir später: „Versuchen sie gar nicht, an der Popakademie wissenschaftlicher zu sein. Das schaffen sie eh nicht. Und außerdem wollen alle so sein wie sie.“
Und die Wirkung auf die Stadt Mannheim? Es fehlt ja noch ein gutes Stück zu den 1000 Arbeitsplätzen in der Kreativwirtschaft, die sich der heutige Oberbürgermeister Peter Kurz vom Mannheimer Musikstadt-Modell vor 20 Jahren versprochen hat?
Dahmen: Wir gehörten mit dem Musikpark und der Popbeauftragten zum Mannheimer Modell. Wir haben auch unsere Wirkung für die Stadt. Viele Dozenten und die Industrie kommen nach Mannheim. Aber die Hoffnung auf dauerhafte Wirtschaftsansiedlung ist nicht in dem Umfang geglückt.
Liegt das an den Baumängeln im Existenzgründerzentrum Musikpark?
Wandjo: Nein, es ist eher der Drang nach Berlin. Wir haben viele Projekte mit dem Musikpark. Man hatte sich aber mehr erhofft. Dasselbe Problem hatte die Filmakademie in Ludwigsburg. Die Leute strömen erst einmal nach Berlin.
Dahmen: Wir haben aber auch eine gewisse Verbleibquote in der Stadt. Einige sind auch zurückgekommen. Letztlich ist der Standort nicht mehr so entscheidend. Zweimal im Jahr nach Berlin in bestimmte Clubs zu fahren, dann zurück. Das reicht.
Zur Person und zum Festakt
- Hubert Wandjo wurde am 27. April 1952 in Lampertheim geboren. Er studierte von 1973 bis 1979 BWL in Mannheim. 1980 startete er seine Karriere bei CBS (später Sony Music) in Frankfurt und bekleidete Top-Positionen bei Columbia und Eastwest Records.
- Udo Dahmen kam am 12. Juli 1951 in Aachen zur Welt. Er studierte klassisches Schlagzeug und spielte in Bands wie Kraan, Lake oder Eloy sowie auf zahllosen Studioproduktionen in Hamburg. Dort wurde er 1983 Dozent und ab 1994 Sprecher des Kontaktstudiengangs Popularmusik (Popkurs).
- Dahmen und Wandjo gründeten 2003 die Popakademie Baden-Württemberg in Mannheim – auf Initiative des Stuttgarter Staatsministers Christoph Palmer (CDU). Beide erhielten zuletzt den Verdienstorden des Landes. Die Popakademie erhielt 2017 den Echo als „Partner des Jahres“und den Live-Entertainment-Award LEA („Künstler- und Nachwuchsförderung“).
- 20 Jahre Popakademie: Nach dem Festakt für geladene Gäste am Mittwoch, 10. Mai, in der Alten Feuerwache folgt ab 20 Uhr ein Jubiläumskonzert u.a. mit Konstantin Gropper (Get Well Soon), Alex Mayr, ok.danke.tschüss und Adina. Eintritt frei, Anmeldung unter popakademie.de.
Wie geht es im Privatleben weiter? Bleiben Sie in Mannheim, Herr Dahmen?
Dahmen: Ich habe nicht vor, hier wegzugehen. Meine Familie ist hier, und ich fühle mich wohl. Ich muss nicht in Berlin oder Hamburg leben. Hubert und ich arbeiten auch schon an einem gemeinsamen Projekt, bei dem wir die Popmusik-Förderstrukturen im Land etwas genauer durchleuchten. 2024 wollen wir zu Ergebnissen kommen, wie da in Zukunft die Perspektiven aussehen. Meinen Podcast „Erklär mir Pop“ werde ich weiterführen wie auch meine ehrenamtliche Tätigkeit als Vizepräsident des Deutschen Musikrats. Ich bin auch offen für neue Ideen.
Als gebürtiger Lampertheimer sind Sie der Region ohnehin fest verbunden, oder Herr Wandjo?
Wandjo: Ja. Ich wohne ja in der Frankfurter Gegend und genieße es schon, auch mal einen Tag vergehen lassen zu können – und dann wieder etwas zu arbeiten. Es kommen auch Leute auf einen zu. Das ist schon eine spannende Zeit. Udo sieht das womöglich anders, aber ich möchte auf keinen Fall in eine Art Full-Time-Beschäftigungsmodell kommen. Das hat sich in den wenigen Monaten im Ruhestand schon herausgestellt. Vielleicht ist nach unserem Projekt in anderthalb Jahren ganz Schluss. Man steht ja in unserem Alter nicht mehr in der Mitte des Lebens, damit muss man umgehen. Da kommt vielleicht die eine oder andere Überlegung, was man noch machen möchte oder sollte.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Abgang von Dahmen und Wandjo: Kein Ende einer Ära an der Popakademie