Schwetzingen. Man kommt aus dem Staunen kaum heraus. Denn es ist absolut spektakulär, was Tom Jones und seine fünfköpfige Band am Dienstagabend bei Musik im Park auf die Bühne im Schwetzinger Schlossgarten bringen. Mit 84 Jahren beeindruckt der Hauptdarsteller in vielerlei Hinsicht. In erster Linie natürlich gesanglich: Volumen, Strahlkraft, Wucht, Ausdruck, Dynamik, Präzision, Artikulation - die Stimme des „Tigers von Wales“ trotz mit fast unverschämter Leichtigkeit den Jahrzehnten. Und der Mann steht schon seit mehr als 60 Jahren im Rampenlicht.
In über 100 Minuten Spielzeit muss man schon extrem genau hinhören, um ein paar Momente zu finden, wo er nicht nah an der Perfektion agiert. Das Beste daran: Diese Gesangsleistung wäre auch für einen 20-Jährigen eindrucksvoll. Sie ist alterslos, auch wenn die Stimme naturgemäß etwas gereifter klingt als 2018, als der Waliser das erste Mal bei Musik im Park auftritt - und über weite Strecken eine verblüffend energetische Alternative-Blues-Rock-Show bot. Und wenn die Erinnerung nicht täuscht, singt Sir Tom Jones heute ausdrucksstärker als um das Jahr 2000, als er mit Hits wie „Sex Bomb“ seinen x-ten Frühling erlebte - mit zarten 60 Jahren ...
Dieser Auftritt hat etwas inspirierend Müheloses
Auch körperlich verblüfft die Performance des ewigen Entertainers. Sein Auftritt hat etwas inspirierend Müheloses. Natürlich liefert er nicht den Aktionsradius eines Rock-Athleten wie Mick Jagger. Aber auch, wenn Jones die Mitte der Bühne kaum verlässt und seine Bewegungen bei angenehm sommerlichen Temperaturen klug dosiert, ist seine physische Präsenz enorm. Das liegt zum einen an seiner Haltung: wie ein britischer Offizier (was er wohl auch zwei neuen Hüften verdankt).
Tom Jones – das Programm bei Musik im Park 2024
Hauptteil
1. I’m Growing Old
(geschrieben von Bobby Cole, aufgenommen von Tom Jones 2021 für das Album „Surrounded By Time“)
2. Not Dark Yet (Bob Dylan, 2021)
3. It’s Not Unusual (Les Reed, 1965)
4. What’s New Pussycat?
(Burt Bacharach, 1965)
5.The Windmills Of Your Mind
(Michel Legrand, 2021)
6. Sex Bomb (Mousse T, 1999)
7. Pop Star (Cat Stevens, 2021)
8. Green, Green Grass Of Home
(Claude „Curly“ Putman, Jr., 1966)
9- One More Cup Of Coffee
(Bob Dylan, 2021)
10. Across The Borderline
(Ry Cooder/John Hiatt)
11. Talking Reality Television Blues
(Todd Snider, 2021)
12. I Won’t Crumble With You If You Fall (Bernice Johnson Reagon, 2021)
13. Tower Of Song
(Leonard Cohen, 2010)
14. Delilah (Les Reed, 1968)
15. Lazarus Man (Terry Callier, 2021)
16. You Can Leave Your Hat On (Randy Newman, 1997)
17. If I Only Knew
(Rise Robots Rise, 1994)
19. Kiss (Prince, 1988)
Zugabe
19. One Hell Of A Life
(Katell Keineg, 2021)
20. Strange Things Happening Every Day
(Sister Rosetta Tharpe, 2010)
21. Johnny B. Goode
(Chuck Berry, 1969).
22. Great Balls Of Fire
(Jerry Lee Lewis, 1997)
Nur die gefetteten Titel hat Tom Jones auch schon 2018 bei Musik im Park gespielt. jpk
Zum anderen: Er tanzt geradezu mit seinem Gesicht. Allein die quicklebendinge Mimik des 84-Jährigen, die gern mit den mitunter zweideutigen Textzeilen korrespondiert, ist das heutzutage moderate Eintrittsgeld wert. Die Videoregie weiß auch genau, wann es Sinn macht, dieses Element auf den Großleinwänden in Szene zu setzen. Das macht allen Beteiligten sichtlich viel Spaß.
Spaß ist wohl auch der Schlüssel zur Erklärung dieser enormen Qualität im hohen Lebensalter: „We had a ball“ ruft Jones zum Schluss den 4000 enthusiastischen Fans zu. Frei übersetzt: Es war uns ein Fest. Das merkt man Jones und seinen Mitspielern um den virtuosen Schlagzeuger Gary Wallis auch in jeder Spielminute an. Das Geheimnis dahinter: Ambition - und wiederum: Spaß.
Seit 2010 macht sich Tom Jones für einen Künstler seiner Generation erstaunlich frei von allen Erwartungen: Nimmt Platten mit krachendem Alternative-Blues auf und reduziert live sein Repertoire an schunkeltauglichen Gassenhauern auf das Allernötigste: „It’s Not Unusual“, „What’s New Pussycat?“, Green, Green Grass of Home“ und natürlich „Delilah“. Aber auch die bekommen luftige neue Arrangements, die überhaupt nicht mehr an Großmutters Partykeller erinnern. Hier sorgt oft Keyboarder Paddy Milner mit Orgel- und Akkordeonklängen für neue Effekte. Die beiden Gitarristen Scott McKeon und Matt White glänzen mit geschmackssicheren Soli und kompakter Zuarbeit für die Rhythmussektion aus Wallis und Dave Bronze am Bass.
Der "Tiger" ist auch bei die lasziv anmutenden Nummern souverän und alterslos
Stimmungstechnisch und musikalisch ein Höhepunkt: „Sex Bomb“ als akustisch eingeleiteter Bluesrocker, der alle auf und vor der Bühne mitreißt. Auch die lasziv anmutenden Nummern wirken souverän und alterslos. Trotz grau gewordener Haare scheint der Mann noch genau zu wissen, wovon er da singt - über Affären hat er oft offen gesprochen. Dabei war er bis zum Tod seiner Jugendliebe Linda Trenchard im Jahr 2016, fast 60 Jahre mit ihr verheiratet.
Die Ambition und Qualität des Konzerts wird auch an der Songauswahl deutlich: Nicht weniger als neun der insgesamt 22 Titel stammen vom jüngsten Studioalbum „Surrounded By Time“ (2021) - es ist sein 41. und enthält Coverversionen von Bob Dylan wie „Not Dark Yet“ und das beeindruckend düster inszenierte „One More Cup Of Coffee“ oder den sehr getragenen Dusty-Springfield-Hit „The Windmills Of Your Mind“. Aber Tom Jones leiht auch Songwriterinnen und Songwritern sein Scheinwerferlicht, die nicht jeder im Plattenschrank oder in der Playlist hat: etwa der Waliserin Katell Keineg, Bernice Johnson Reagon, dem hörenswerten Talking-Blues-Experten Todd Snider inklusive Seitenhieb auf Donald Trump oder Terry Callier. Dessen musikalisch und visuell opulent interpretierte Blues-Moritat „Lazarus Man“ ist das Glanzlicht der Show.
Nach dem Abräumer „Sex Bomb“ lassen Jones und Co. eine fast elektronisch puckernde Sichtweise auf Cat Stevens eigenwillige Nummer „Pop Star“ folgen - und dann sechs eher ruhige, anspruchsvolle Songs, eingerahmt von der Geschmacks-Country-Version von „Green, Green Grass Of Home“ und Leonard Cohens „Tower Of Song“. Das ist gewagt.
Die ambitionierte Songauswahl funktioniert auf und vor der Bühne
Denn bei normalen Konzerten hätten die Bierstände dabei nach fünf Minuten Hochkonjunktur - aber Jones ist nun mal ein Interpret im besten Sinne des Wortes. Wie er sich diese teils unbekannten Lieder aneignet, ihnen seinen Stempel aufdrückt, fesselt und fasziniert. Zur Belohnung gibt es „Delilah“, das „Lazarus Man“-Spektakel und die Partysause aus „You Can Leave Your Hat On“, „If I Only Knew“ und „Kiss“ bis zur Zugabe. Da kriegt Jones, die zweite Luft, als es um seine zweite Jugendliebe geht: den Rock ’n’ Roll der 50er mit Klassikern von Sister Rosetta Sharpe, Chuck Berry und Jerry Lee Lewis.
Aber auch, wenn der Tiger seinem Alter die Krallen zeigt, geht er doch würdevoll damit um. Er spielt hier nie den Berufsjugendlichen am Rand der Lächerlichkeit. Ganz im Gegenteil: Schon das salbungsvoll eingesprochene Intro setzt ein Schlaglicht auf sein Geburtsjahr 1940. Der erste Song „I’m Growing Old“ reflektiert das Altern so positiv wie die euphorische Bilanz-Nummer „Hell Of A Life“ zu Beginn der Zugabe. Eine perfekte Beerdigungshymne, die aber nie Grabesstimmung aufkommen lässt.
Würdevoller Umgang mit dem Thema Alter als Rahmenhandlung
Zu fröhlich und energiegeladen wirkt der Star, der würdevoll und selbstironisch mit gänsehauterzeugenden Zahlen und Anekdoten umgeht: etwa dem Konzertbesuch mit Elvis bei Chuck Berry, der Aufnahme des ersten Hits vor 60 Jahren und der Tatsache, dass ihm „Surrounded By Time“ den Status als ältester Nummer-eins-Künstler der Geschichte der britischen Album-Charts eingetragen hat. Ganz nebenbei hat Jones nach mehr als 3000 Konzerten Leonard Cohen als ältesten Sänger abgelöst, den ich live gesehen habe. Und er kündigt strahlend an, wieder zu kommen. Okay, wenn es wieder sechs Jahre dauert, haben wir 2030 ein Date!
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/kultur_artikel,-kultur-warum-tom-jones-mit-84-jahren-so-exzellent-singt-_arid,2232507.html