Interview

Regisseur des Nationaltheaters Mannheim kreiert historische Liebesgeschichte

Im Pfalzbau Ludwigshafen läuft die erste Produktion des Nationaltheaters Mannheim von Regisseur Jossi Wieler an. Im Interview erklärt er, was am Theaterstück  „Hugenotten“ an die Netflix-Serie „The Crown“ erinnert

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Versucht, „etwas Relevantes über unsere Gegenwart zu erzählen, ohne Gegenwart abzubilden“: Regisseur Jossi Wieler. © dpa

Mannheim. Pause für die „Hugenotten“. Stille. Jossi Wieler streift durch die Sitzreihen zum Mischpult und zurück. Der Regisseur wirkt etwas müde. Er geht hinüber in die Garderobe des Pfalzbaus, wo wir das Gespräch führen. Dort nimmt Wieler eine Butterbrezel. Beißt ab. Kaut. Das Aufnahmegerät läuft.

Herr Wieler, die Gretchenfrage: Wie hast du’s mit der Religion?

Jossi Wieler: Es geht in den „Hugenotten“ um einen Religions- und Politikkonflikt, in dem religiöse Dogmen zur Vernichtungsideologie werden. Das Massaker der Katholiken an den Protestanten in der Bartholomäusnacht ist eine Metapher für Religionskonflikte, in denen sich Macht- und Glaubenskartelle in Ideologien verirren und nicht wieder hinausfinden.

Aber was sind Ihnen persönlich die Religion und der Gottesbegriff?

Wieler: Ich komme aus einer jüdischen Familie. Ich bin mit einem sehr liberalen religiösen Verständnis aufgewachsen. Das begleitet mein Leben und übrigens auch das von Sergio Morabito, mit dem ich inszeniere. Ich bin nicht religiös, aber ich habe ein religiöses Bewusstsein. Jeder soll mit seinem Glauben selig werden. Schrecklich ist, wenn der Glaube so den Blick auf das Andere verstellt, dass er dogmatisch wird.

Wieler und „Hugenotten“

  • Der Regisseur: Jossi Wieler, 1951 in Kreuzlingen geboren, studierte Regie in Tel Aviv, war 1983-85 Hausregisseur in Heidelberg und 2011-18 Intendant der Oper Stuttgart.
  • Die Hugenotten: 22., 24., 26., 28. Januar, 1., 3., 5. Februar im Pfalzbau Ludwigshafen (4’45 Stunden inkl. zwei Pausen).
  • Info: 0621/1680 150.

Ich könnte nun schließen, dass der Religionskonflikt, der ja Motor ist, und der Zugang zu Gott bei Ihnen überhaupt keine Rolle spielen.

Wieler: Doch, es geht ja um gläubige Menschen, aber der Glaube wird für etwas Anderes benutzt. Da ist der fast kindlich gläubige Hugenotte Marcel, ein in seiner geistigen Entwicklung gebremster Träumer mit kindlicher Seele. Und dagegen steht die sich wichtig nehmende, zynische katholische Gesellschaft, eine alte machtbewusste Elite, die auch die Religion benutzt, um ihre persönlichen Machtinteressen durchzusetzen. Da wird demagogisch agitiert, etwa vom Vater von Valentine, Graf von Saint-Bris, der die Gesellschaft aufhetzt. Man darf und muss das sehr ernst nehmen, und zugleich sind die Geschichten, die das Stück erzählt, auch extrem unterhaltsam.

Sie sagten, der Glaube würde in dem Werk für politische Interessen missbraucht. Was meinen Sie?

Wieler: Das Stück legt nahe, dass die Mutter der Marguerite von Valois, Katharina von Medici, die sogenannte Pariser Bluthochzeit ihrer Tochter mit dem Hugenottenkönig Heinrich von Navarra nur inszeniert, um möglichst alle Hugenotten in die katholische Hauptstadt Paris zu locken und sie dort umbringen zu können. Meyerbeer durfte Katharina aus Zensurgründen nicht auf der Bühne zeigen, aber bei uns taucht sie immer wieder auf und zieht im Hintergrund die Strippen.

In den „Hugenotten“ kämpfen Katholiken gegen Protestanten. Heute kämpfen die christlichen Kirchen gemeinsam vor allem gegen eines: den Atheismus. Das größte religiöse Problem weltweit ist indes radikaler Islamismus - wie gehen Sie als Regisseur damit um?

Wieler: Wir versuchen, nicht in die Falle kurzschlüssiger Aktualisierung zu tappen, also unsere Kunst nicht an das Getöse der Mehrheitsdiskurse zu verraten. Wie in allen Inszenierungen von Wieler-Morabito-Viebrock wird sich die Aktualität dieser Oper einzig durch die Genauigkeit unseres Lesens und Erzählens herstellen. Das ist die experimentellste und unkonventionellste Vorgehensweise, die in der Oper möglich ist: ein Stück radikal genau aus- und weiter zu erzählen und die Dinge in der Verrückung so zur Kenntlichkeit zu entstellen.

Das heißt in jedem Fall: Die brennenden Themen dieser Tage, Klimawandel, Territorialkrieg oder globale Gerechtigkeit, das taucht jetzt bei Ihnen nicht auf.

Wieler: Wir versuchen, etwas Relevantes über unsere Gegenwart zu erzählen, ohne Gegenwart abzubilden. Dagegen sperren sich auch die Werke. Sie setzen uns auch einen Widerstand entgegen. Wir gehen eher mit dem Fremden darin um. Es geht ja immer um die Fremdheit des Menschen…

… und der tickt immer noch wie vor 550 Jahren …

Wieler: … wenn es um Manipulation, Verrat, Agitation oder Glaubenskonflikte geht, ja. Und gerade da bieten solche vermeintlich historischen, aber doch fiktiven Geschichten einen guten Boden. Die Grand Opéra ist ein Genre, das unglaublich reich ist, und funktioniert gar nicht so unähnlich, wie heute Serien im Fernsehen erzählt werden. Die haben einen historischen Anstrich, es geht um eine geschichtliche Situation, aber die Figuren sind nicht alle historisch. Von Meyerbeers Figuren gab es die Marguerite …

… aber nicht die Valentine …

Wieler: … genau. Sie ist eine der Figuren, die einen „human interest“ bedienen. Das ist ein bisschen wie in der Serie „The Crown“. Einiges ist historisch, aber eigentlich geht es um eine Liebesgeschichte, um Verrat und Intrigen.

Ein bisschen „Romeo und Julia“.

Wieler: Das könnte man so sehen, ja. Es ist Tragödie, Komödie, es hat leichte Operettenaspekte, Hochdramatisches. Reich, hochvirtuos und unterhaltsam.

Auf den ersten Blick sieht die Bühne aus, als würden zwei Zeiten bedient: 19. und 20. Jahrhundert.

Wieler: Nein, wir sind da eher in den Kulissen eines Filmstudios in Hollywood, 20er, 30er Jahre, wo ein Filmversöhnungsprojekt erzählt werden soll. Marguerite arbeitet an einer Art Imagefilm über die Toleranz ihrer Familie, der Valois. Und da vermischen sich dann die Realitätsebenen. Ganz konkret wird der Historienschinken „La Reine Margot“ von 1954 zitiert, der auch das Geschehen rund um die Bartholomäusnacht thematisiert.

Die Grand Opéra fährt schwere Geschütze auf - musikalisch, sängerisch, aber auch tänzerisch. Ist alles an seinem Platz geblieben?

Wieler: Es gibt kaum Striche. Wir realisieren die Werke immer integral. Es geht um eine Auseinandersetzung mit Geschichte, und die setzt voraus, dass wir einen Abstand zulassen zu einem Werk, das fast 200 Jahre alt ist. Das einfach hinzubiegen, damit es für uns heute oberflächlich stimmt, war nie unser Ansatz. Auch wenn das nicht immer einfach ist.

Gerade bei einem Werk mit einer epischen Länge von fast vier Stunden. Macht Ihnen die Länge auch mal Probleme beim Inszenieren?

Wieler: Wenn man sich darauf einlässt, nicht. Es ist doch toll, dass es solche Werke gibt, die einen so herausfordern, die eine Zumutung sind und an die Grenzen gehen - oder darüber hinaus. „Meistersinger“, „Tristan“ oder Halévys „La Juive“ über das Konstanzer Konzil, letztere sind sogar das gleiche Genre.

Apropos: Meyerbeer hat die Partien Valentine, Raoul und Marcel den gleichen Sängern wie in „La Juive“ auf den Leib geschrieben. Welche Probleme ergeben sich daraus bei der Arbeit mit anderen?

Wieler: Wir versuchen jedes Mal, mit den Leuten vor Ort etwas zu erarbeiten, das in sich stimmig ist und mit dem sich die Mitwirkenden wohlfühlen. Das ist hier ein tolles Ensemble und ein guter Chor. Ich sage das jetzt so, wie ich es meine: Es macht großen Spaß. Wir haben das Stück ja bereits in Genf gemacht, aber wir erarbeiten es jetzt neu, es wird keine Kopie sein, die in Ludwigshafen zu sehen sein wird.

Wollen Sie mit Ihrer Arbeit allgemein auf etwas hinaus? Gibt es einen roten Faden? Die Oper verliert an Relevanz, oder: Die Repräsentationskultur öffentlich finanzierter Kunst insgesamt gerät immer mehr unter den Druck von Wirksamkeit und Nutzen. Spielt das für Ihre Arbeit eine Rolle?

Wieler: Diese Werke müssen nicht um Relevanz buhlen. Die haben sie. Der rote Faden ist für mich: Was kann diese alte Kunst uns heute erzählen? Und ich entdecke: sehr, sehr viel. Man erfährt etwas über die Welt, über eine frühere und über eine heutige. Musiktheater ist die kollektivste Kunstform überhaupt, noch mehr als Schauspiel, und dass da alles analog so zusammenkommt, dass Chor, Orchester, Solisten, jede Bühnenfahrt und überhaupt alles rundherum in dem Moment funktioniert, das geht nur, weil man sich gegenseitig zuhört, sich aufeinander ein-und verlässt. Jeder Einzelne ist wichtig. Das ist eine besonders schöne Metapher für das, was die Welt …

… zusammenhält?

Wieler: Zusammenhalten sollte, denn das ist ja geradezu utopisch. Und dann kommt auch noch jeder einzelne Zuschauer ins Spiel.

Ein Publikum? Es gibt heute Theater für Babys, für 2 Jahre +, 3+, 4+, 7+, 8+, 10+, 14+, 15+ und danach für Jugendliche, junge Erwachsene, für Familien und am Ende für die, die vom alten Bildungsbürgertum übrig geblieben sind und mal einen Schiller mit Originaltext sehen wollen. Denken Sie an die Leute bei Ihrer Arbeit?

Wieler: Wir wenden uns schon an alle, und wenn man dann eine Produktion macht mit sehr jungen Sängerinnen und Sängern, kommen plötzlich auch wieder sehr viel jüngere Menschen in die Oper, wie zuletzt bei unserer Stuttgarter „Alcina“ - und die ist noch um einige Jahre älter als die „Hugenotten“. Aber ja: Wir versuchen, einfach etwas zu erzählen, was für das Denken von heute eine Relevanz bekommt, was auch für Jüngere funktionieren kann.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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