Jubiläum

Der Stadtteil mit Hafen: Mannheim-Rheinau wird 150 Jahre alt

Am 6. Dezember 1872 wird die Chemische Fabrik Rheinau gegründet – Namensgeber und Keimzelle des zweitgrößten Mannheimer Vorortes. In den 150 Jahren seither entsteht daraus ein industrieller Schwerpunkt der Metropolregion mit dennoch hohem Freizeitwert

Von 
Konstantin Groß
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Rheinau nach 1900. Vorne die damals drei Hafenbecken mit den Fabriken. Die Kreuzung in der linken Bildhälfte oben ist der Karlsplatz, die von Bäumen gesäumte Straße rechts davon die heutige Relaisstraße, die Parallelstraße darunter die heutige Karlsruher Straße mit der Bahnlinie. © Archiv Konstantin Groß

Gerhard Stratthaus hat viel gesehen. Der CDU-Mann ist lange Oberbürgermeister in Schwetzingen und Finanzminister von Baden-Württemberg, trifft den Papst und wird Ehrenbürger seines Heimatortes Brühl. Es hat also Gewicht, wenn der heute 80-Jährige sagt: „Für mich ist Rheinau der schönste Stadtteil Mannheims.“

Das mag manchen überraschen. Lange hat die Rheinau keinen guten Ruf. Die Rheinauer selbst reagieren auf solche Zuschreibungen selbstbewusst achselzuckend. Sie wissen seit langem um ihre Naturschönheiten, den Wald und die Riedwiesen, den Rheinauer See und das Parkschwimmbad, ihre industrielle Power und ihre Geschichte; die beginnt offiziell vor 150 Jahren.

Rheinau-Ansichtskarte aus dem Jahre 1905. Die Sprache darauf ist Tschechisch. Ein Wanderarbeiter aus Böhmen schickt sie nach Hause. © Archiv Konstantin Groß

Zunächst jedoch ist das Gebiet jahrhundertelang geprägt durch Hochwasser und Sümpfe am Rheinufer im Westen sowie Sanddünen im Osten – daher der Utz-Name „Sandhasen“ für die Rheinauer. Dauerhafte Besiedlung? Vorerst Fehlanzeige.

Relaishaus und Stengelhof

Das ändert sich, als Kurfürst Karl Philipp 1740 durch das Gebiet eine Chaussee (heute Casterfeld- und Relaisstraße) schlagen lässt, um von seinem Schloss in Mannheim zu seiner Sommerresidenz in Schwetzingen zu gelangen. 1750 errichtet sein Nachfolger Carl-Theodor auf halbem Wege (heute Höhe Karlsplatz) eine Pferdewechselstation: das Relaishaus, erste feste Behausung im Gebiet; doch die brennt bereits 1795 ab. Die Überbleibsel sind 1817 Wendepunkt der legendären Erstausfahrt von Karl Drais mit seinem Laufrad; ein Denkmal erinnert daran.

Den Namen „Relaishaus“ übernimmt um 1870 – quasi aus PR-Gründen – die Gastwirtschaft in dem 1771 erbauten Kißler-Hof in der Relaisstraße. Auch dieses Relaishaus brennt bekanntlich ab, 2015. Aber das ist eine ganz eigene Geschichte.

Mehr erfahren über Mannheim-Rheinau

Daten: Die Rheinau liegt im Süden der Stadt Mannheim zwischen dem Vorort Neckarau und der Gemeinde Brühl. Mit 15,3 Quadratkilometern ist sie der zweitgrößte aller Stadtteile und mit 25 000 Einwohnern auch einer der bevölkerungsstärksten.

Ausflugsziele: Wald mit Wildgehege (Auerochsen), Rheinauer See mit Badestrand und Wasserskianlage.

Baudenkmäler: Relaishaus in der Relaisstraße (1771 erbaut, 2015 stark beschädigt), Stengelhof am Karlsplatz (1774 ff.), Früheres Elektrizitätswerk in der Rhenaniastraße (1897, heute Halle), Wasserwerk im Hallenweg 2-4 (1927, noch in Betrieb).

Moderne Bauten: Rheinau hat sieben Kirchen, geplant von prominenten Architekten, so die Pfingstbergkirche (1963) von Carlfried Mutschler mit wandhohen Glasflächen und die Versöhnungskirche (1965) von Helmut Striffler am Marktplatz mit Sichtbetonwänden. Prägnant aber auch die von Heinz Hess entworfenen katholischen Kirchen St. Konrad im Casterfeld (1966) mit zuckerhutförmigem Kirchturm und St. Theresia (1961) mit eliptischem Grundriss.

Gesellschaftliches Leben: Dachorganisation ist der 1957 gegründete Gemeinnützige Verein (Vorsitzender Andreas Schäfer). Er ist Organisator des dreitägigen Stadtteilfestes (1990 zunächst als „Meile“ in der Relaisstraße) sowie des Neujahrsempfanges mit prominenten Rednern (u. a. Franz Müntefering, Jens Spahn).

Literatur: Bildband mit aktuellen Fotos von „MM“-Fotograf Thomas Tröster und Texten von Konstantin Groß, Waldkirch-Verlag Mannheim. Chronik von diesem Autor im gleichen Verlag für 2023 in Arbeit. -tin

1774 folgt als drittes Gebäude jener Hof, den der kurfürstliche Beamte Baron von Stengel als Kern eines Gutes mit Weinbergen, Gärten und Alleen um den Karlsplatz herum anlegt. Heute zeugt davon noch ein restauriertes Gebäude, das zum Wohnhaus der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung gehört.

Die Geschichte der Rheinau als Stadtteil, gar ihres Namens, beginnt erst 1872. Die Reparationen Frankreichs nach dem Kriege von 1870/71 lösen einen Boom aus, Kapital sucht Investitionsziele, die Chemie gilt als lukrativ. Ein Konsortium um den Kaufmann Rudolf Haas plant daher eine Chemiefabrik nahe Mannheim.

Das menschenleere Gelände südlich der Stadt mit Zugang zum Wasser und – seit Bau der Rheintalbahn 1870 – auch noch mit Eisenbahnanschluss ist dafür geradezu ideal. Nahe dem Rhein (Gelände der heutigen TIB Chemicals) erwerben die Investoren ein 26 Hektar großes Areal und gründen hier am 6. Dezember 1872 ihre Fabrik. Sie erhält den Namen Rheinau. Und der überträgt sich bald auf das ganze Gebiet.

Viele Firmen folgen, 1891 Dubois & Kaufmann, die spätere Rhein-Chemie, 1899 Sunlicht, heute Lever, 1900 die Zündholz. Ganz im Süden entsteht die Luftschiff-Werft Schütte-Lanz, die große Konkurrenz zum Grafen Zeppelin. Durch die Industrie wird sogar ein Hafen gebaut. 1896 beginnt die Firma Philipp Holzmann das erste Hafenbecken; am Ende, 1913, werden es vier sein.

Parallel läuft die Besiedlung. Die Arbeitskräfte wollen nicht mehr einpendeln, sondern hier wohnen. Die Straßen und Häuser entstehen, noch heute spürbar, am Reißbrett, mit Jugendstilgebäuden in der Stengelhof- und der Karlsruher Straße und kleinen Häuschen in der Zwischenstraße. 1875 leben auf der Rheinau ganze 120 Menschen, 1910 4000! „Amerikanisches Wachstum“ heißt das.

Damit stellt sich die Frage der politischen Vertretung. Das Gebiet gehört zur Gemeinde Seckenheim. Neben der räumlichen Distanz von fünf Kilometern ist der Gegensatz zwischen Bauerndorf und Industriegebiet problematisch. Trotzdem will Seckenheim das lukrative Areal behalten. Das Land Baden muss per Gesetz das Rheinaugebiet 1913 der Stadt Mannheim „einverleiben“.

Relaishaus zu Beginn des 20. Jahrhunderts – noch mit Vorgarten. © Archiv Groß

Die gute Entwicklung vor Ort endet bereits im Jahr darauf mit dem Ersten Weltkrieg. Der 21-jährige Karl Simon wird am 9. August 1914 der erste von 99 Rheinauer Gefallenen. Der Stadtteil selbst ist Standort der Rüstungsindustrie. Im Stahlwerk werden Granaten gebaut, bei Schütte-Lanz Luftschiffe für das Militär. Eines dringt am 2. September 1916 sogar in den englischen Luftraum vor und wirft zwei Tonnen Sprengbomben auf London. Ein Menetekel.

Der Krieg macht Rheinau aber auch zum Schauplatz einer historischen technischen Innovation: der Herstellung von Benzin aus Kohle, Erfindung von Friedrich Bergius. Da den Militärfahrzeugen zunehmend Benzin fehlt, wird sie ab 1916 bei der Firma Goldschmidt industriell betrieben. 1931 erhält Bergius dafür den Nobelpreis. So ist Rheinau der einzige Stadtteil, der einen Nobelpreisträger sein Eigen nennt.

Nach dem Krieg besetzen französische Soldaten den Rheinauer Hafen, die Kantine der Sunlicht wird ihr Lager. Die Rhenaniastraße ist für ein halbes Jahr de facto Grenze zwischen Deutschland und Frankreich.

Zum Beispiel für frühe Konversion werden die Kistenhäuser auf dem Pfingstberg. Sie heißen so, weil ihre Wände aus mit Sand gefüllten Munitionskisten bestehen, die nach dem Krieg im Übermaß vorhanden sind. 1921 ersteigert die Baufiirma Grün & Bilfinger 300 000 davon: Vorgänger der Pfingstberg-Siedlung, zu der – nun mit Stein-Häusern – am 3. Juli 1921 der Spatenstich gesetzt wird.

1933 folgt eine weitere Siedlung, ganz im Süden, auf einem Gelände, das bis 1944 zur Gemeinde Brühl gehört. 158 Doppelhäuser bilden die IG-Siedlung, benannt nach ihrem Bauherrn, der IG Farben. Erst als die Häuser fertig sind, werden sie unter den Siedlern verlost. So soll sichergestellt werden, dass an jedem Haus mit gleicher Sorgfalt gearbeitet wird.

Welcher Geist hier herrscht, zeigen Details. Die Straßen werden benannt nach Protagonisten des Kolonialismus: Gustav Nachtigal, Leutwein, Lüderitz, Karl Peters, die 1937 erbaute Schule nach Hans Schemm, Führer des NS-Lehrerbundes. 1934 folgt der Bau der Casterfeldsiedlung beiderseits der alten Chaussee.

Krieg und Neubeginn

Und wie sieht es politisch aus? Die Rheinau ist traditionell links. Bei den letzten freien Reichstagswahlen im Juli 1932 kommen die Kommunisten auf 29 Prozent, die NSDAP auf 27, die SPD auf 26. Doch 1933 herrschen auch in Rheinau die Nazis und zeigen es: Im Juni weihen sie das Kriegerdenkmal auf dem Marktplatz ein.

Zu leiden haben auch hier vor allem die Juden. Die Volkszählung von 1934 vermerkt fünf Bürger israelitischen Glaubens vor Ort. Beim Novemberpogrom 1938 wird die Wohnung des jüdischen Chemikers Dr. Michaelis (Karlsruher Straße 6) gestürmt und verwüstet, Mobiliar und Bibliothek auf die Straße geworfen und verbrannt. Er selbst wird ins Konzentrationslager deportiert.

An Karfreitag 1945 kommen die Amerikaner – durch die Relaisstraße. Das politische Leben beginnt von Neuem. Im gleichen Jahr wird der SPD-Ortsverein neu gegründet, im Kindergarten der AWO. Die Gründer sitzen auf kleinen Stühlen. Vormann Karl Hettinger ist viele Jahre prägende Gestalt der Politik vor Ort.

Wohnblöcke der GBG entstehen, die Straßenbahn wird 1953 von der Rhenania- in die Relaisstraße verlegt, der Karlsplatz gemäß Doktrin von der „autogererechten Stadt“ 1967 zum riesigen Rondell umgebaut. In den 1980er Jahren erfolgt der Niedergang der Industrie. Zum Synonym wird 1981 der Tod der Maschinenfabrik Mohr & Federhaff, 1801 gegründet und seit 1951 auf der Rheinau. 1984 folgt die Zündholz.

Auf den Brachen entstehen Gewerbe- und vor allem Wohngebiete, ab 1982 ein ganz neuer Stadtteil, Rheinau-Süd, mit einem Wahrzeichen: Aus einem Kiesloch wird der Rheinauer See, durch seine Wasserski-Anlage überregional bekannt.

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