Man mag diesen Doktor Löwe. Auf die Siebzig geht der jüdische Hausarzt zu. Ein gutes Auskommen hatte er als Wanderer durch die wohlhabenden Haushalte seiner deutschen Patienten in der schlesischen Kaiserstadt Breslau. Als durch und durch Schulmediziner aber ist er vom Fall Erna Eltzner, deren Initialen den Romantitel ergeben, dann doch verunsichert und überfordert. Während eines Ohnmachtsanfalls am Mittagstisch war der fragilen 15-Jährigen ein Geist erschienen, worauf ihr die Mutter sowie ein obskurer Ratgeber mediale Fähigkeiten attestierten und zu Séancen ins Haus des Textilfabrikanten Eltzner einluden, in deren Mittelpunkt Erna steht.
Wir schreiben das Jahr 1908, und die Wissenschaft erlebte gerade in diversen Disziplinen einen Schub. Gemeinsam mit Josef Breuer hatte Sigmund Freud im Jahr 1895 schon „Studien über Hysterie“ veröffentlicht, was eine nächste Ärztegeneration maßgeblich beeinflussen wird. Um seine empirische Basis zu erweitern, geht Doktor Löwe zu den spiritistischen Sitzungen, auch wenn er wenigstens anfangs vor derlei Narreteien warnt. Wissen, was dort passiert, möchte er trotzdem. Man mag ihn auch für sein unvoreingenommenes Interesse am Neuen. Es ist nun ordentlich was los im gutbürgerlichen Hause Eltzner.
Und das ist ganz im Sinne der vierzigjährigen Herrin des Hauses. Die wollte eigentlich mal Schauspielerin in Berlin werden und wohnte dort zu solchem Ende bei einer zwielichtigen Freundin. Von da hat sie ihr pragmatischer Gatte, der mittlerweile auch für die Armee produziert, heimgeführt nach Breslau. Hier spielt nach der Geburt von acht Kindern ihre Figur mittlerweile ein wenig ins Üppige. Sie neigt zu Nervenanfällen, Weinkrämpfen und Migräne. Ernas vermeintliche Fähigkeiten kommen ihr gerade recht, um etwas gegen ihre Alltagsmüdigkeit zu tun, ihre durchaus noch vorhandene Restattraktivität zu reanimieren und jenseits ihrer Aufopferung für die große Nachkommenschaft wieder Leben in die Bude zu bringen. Dabei kann sie eine Art Theaterdirektorin sein.
Autorin schreibt mit Anteil nehmender Ironie
Zu so etwas wie ihrem Chefdramaturgen macht sie Walter Frommer, der als Beamter in der Stadtverwaltung die Verstorbenen archiviert und ansonsten mit seiner geisteskranken Schwester ein tristes Leben führen müsste, gäbe es für ihn nicht eine ausgelebte Neigung zum Spiritismus und eine verborgene zu Frau Eltzner. Die schätzt dessen Meinung höher als die Dr. Löwes und lässt sich von ihm gerne die Wissenschaft klein reden, die das Hohe niedrig macht.
Das 2005 erstmals erschienene Buch „E. E.“ ist der zweite Roman der Nobelpreisträgerin des Jahres 2018/19, Olga Tokarczuk. Da hatte sie sich schon für eine Existenz als freie Autorin entschieden und arbeitete nicht mehr als Psychologin und Psychotherapeutin. Doch sind ihre Berufserfahrungen nicht nur in diesen frühen Roman eingeflossen, der ein lesenswerter Vorschein auf ihr beeindruckendes Schaffen ist. „E. E.“ stellt in acht wechselnden Erzähl- und Erfahrungsperspektiven die Ereignisse um die junge Erna Eltzner gleichermaßen nach und in Frage. Mit Anteil nehmender Ironie entwickelt Tokarczuk einen vielstimmigen erzählerischen Sog, dem sie die sprunghafte Ankunft ihrer Wissenschaft in der Moderne einschreibt.
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