Literatur

Mithu Sanyal reist in "Antichristie" durch die Zeit

Lauter historische Figuren, geschnürt zu einem Bündel von Geschichten: Mithu Sanyals neuer Roman „Antichristie“ handelt von Indien im Besonderen und dem Kolonialismus überhaupt - und verlangt dem Leser einiges ab

Von 
Ulrich Steinmetzger
Lesedauer: 
Von Sherlock Holmes über den Freiheitskämpfer Savarkar bis zum Tod der Queen: In „Antichristie“ wirft Mithu Sanyal ganz schön viel zusammen. © Sebastian Gollnow/dpa

Ganz am Ende ihres reichlich fünfhundert Seiten starken Romans beschreibt Mithu Sanyal den enormen Rechercheaufwand, der ihm zugrunde liegt. Bei Wissenschaftlern rund um die Welt hat sie sich kundig gemacht, um Fakten, Deutungen und Zusammenhänge jenseits der ebenso gängigen wie schmalen Wissensbasis zur indischen Befreiung aus britischer Kolonialherrschaft zusammenzutragen. Da gab es bis hin zur Unabhängigkeit 1947 und der Teilung in Indien und Pakistan eben nicht nur Gandhi und seinen passiven Widerstand. Viel Stoff, sehr viel … Doch wie ordnet man den zu einem Roman?

Der Auftrag: Agatha Christie-Klassiker politisch korrekt umschreiben

Mithu Sanyal macht das geschickt auf zwei Ebenen. Sie installiert ihre fünfzigjährige Autorin Dunga aus Köln, ein Kind von Eltern aus verschiedenen Nationen, die sich bald wieder trennten - ein typisches Kind der achtziger Jahre. Wegen ihres Humors wird sie von einer englischen Filmgesellschaft engagiert, um Agatha Christie-Klassiker entsprechend der heutigen politischen Korrektheit umzuschreiben. „Jetzt dürfen wir keine Poirot-Filme mehr machen, wenn nicht alle schwarz, lesbisch und behindert sind“, überspitzt einer ihren Auftrag.

Als sie in London ankommt, ist gerade die Queen gestorben, eine Epoche geht zu Ende. Auch Dungas Mutter Lila lebt nicht mehr, doch die hatte ihre Tochter eh sehr früh schon verlassen, um sich ganz und gar dem revolutionären Kampf zu widmen, der dann vor allem aus freier Liebe bei erhöhtem Drogenkonsum bestand. Das wäre die Gegenwartsebene.

Geschichtsvermittlung und sehr, sehr viel Gerede

Zwei tote Frauen also, die unterschiedlicher nicht sein könnten, am Beginn eines Romans, der fortan abrollt wie eine Mischung aus Slapstick, Geschichtsvermittlung und sehr, sehr viel Gerede innerhalb eines Figurenensembles, das bald nicht mehr überschaubar ist. Da sitzt der Leser dann sehr lange wie in einem Hörsaal, weil sich jeder die Zeit nimmt, um das historische Knäuel auf seine Weise zu entwirren (oder weiter zu verknäulen). Zur Lesehilfe kann man hinten die Figuren nachschlagen, um wieder zur Orientierung zu finden. Doch wer macht das schon? Viel Stoff jedenfalls, der auf die Redenden verteilt werden muss: Herr Leser, ich weiß was.

Mithu Sanyal

  • Mithu Sanyal (Jahrgang 1971) ist eine deutsche Schriftstellerin. Sie wurde als Tochter einer polnischstämmigen Mutter und eines indischen Vaters in Düsseldorf geboren.
  • 2021 debütierte sie mit dem Campusroman „Identitti“ als Belletristin und schaffte es umgehend auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises.
  • Vorher hatte die promovierte Kulturgeschichtlerin vielbeachtete Sachbücher zu den Themen „Vergewaltigung“ und „Vulva - die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ veröffentlicht.

Nicht immer kurzweiliger Nachhilfeunterricht in Geschichte

Dann verheddert sich Dunga in Ebene zwei in der Zeitmaschine ihres Films „Doctor Who“ und landet verwandelt zum Mann im 116 Jahre jüngeren London von 1906. Kurz macht sie sich sehr befriedigend mit dem neuen Geschlechtsteil unterhalb ihres Nabels vertraut, und lang ist sie im von Vinayak Damodar Savankar (1883-1963) geleiteten India House zugange, dem Who’s Who der indischen Widerständler, die sich von der Kolonialherrschaft befreien wollen, wobei Savankar Ideengeber und Gegenspieler Gandhis ist, der auch irgendwann im besagten India House erscheint.

Savankar gilt heute als Hindu-Hitler, hielt aufrührerische Reden, rief zu Gewalt auf und ist der titelgebende Antichristie. Als ihn irgendwann die Briten zu zweimal lebenslänglich verurteilen, kommentiert er das keck: „Endlich haben die Engländer das Prinzip der Wiedergeburt verstanden.“ In der Verbannung schrieb er die Bibel des Hindunationalismus, in die seine Haft und Folter eingeflossen sind.

Dunga kommt ihm als geschlechtsumgewandelter Sanjeev sehr nahe und erlebt das Attentat auf den britischen Geheimdienstchef Lord Curzon Wyllie, für das Madan Lal Dhingra hingerichtet wird. Lauter historische Figuren, geschnürt zu einem Bündel von Geschichten, die von der Autorin aus dem Vergessen geholt werden.

Mehr zum Thema

Technologie

Space Forge tüftelt an Fabriken fürs Weltall

Veröffentlicht
Von
Björn Hartmann
Mehr erfahren

In ihrer deutschen Schule wurden Hitler und der Zweite Weltkrieg „hoch und runter behandelt“, über den Kolonialismus, der vergleichbar viele Tote forderte, erfuhr sie so gut wie nichts. Vor diesem Hintergrund nun häuft sie ihren Bildungsberg.

Leider hält sie ihr Ideenfeuerwerk nicht durch bei ihrem nicht immer kurzweiligen Nachhilfeunterricht. In dem dreht und wendet sie die Geschichte weg von der „lektorierten europäischen Version“. Churchill entschuldigt die britische Eroberung der Welt, „weil wir das geschmacklose englische Essen nicht mehr ertragen konnten“. Auch Hegel fand Kolonialismus ganz okay.

Auch hier gilt: Weniger ist manchmal mehr

Dagegen bringt Mithu Sanyal ihren Antikolonialismus-Roman in Stellung. Sie dreht und wendet die Ereignisse, weil es nun mal keine einfachen Wahrheiten gibt, lässt schließlich deswegen sogar Sherlock Holmes ermitteln, was dem Roman zu seiner finalen Volte verhilft.

Vielleicht wäre insgesamt weniger mehr gewesen. Immerhin hatte es der Roman völlig zu Recht auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis geschafft. Auf die Shortlist kam er dann aber nicht. Und auch das war die richtige Entscheidung.

Freier Autor Ulrich Steinmetzger geboren 1958 in Gera, Abitur, Pädagogikstudium in Halle (Saale), Lehrer, Promotion zum Dr. phil., seit 1987 Arbeit als Lektor (Mitteldeutscher Verlag, Deutsche Verlags-Anstalt, Verlag Janos Stekovics, Wallstein Verlag, Verlag Hermann Schmidt, jazzwerkstatt, Osburg Verlag …) und Herausgeber („Die unter 30“, mit Bernd Dreiocker und Matthias Eisel, „Was wird aus uns?“, „Michel ohne Mütze“ mit Hinrich Matthiesen, „Berlin | Berlin“, mit Ulli Blobel, „Sonne, Mond und Sterne. Über Literatur und Musik“, mit Jürgen Krätzer und Benedikt Viertelhaus), von 1997 bis 2002 Marketing- und Werbekoordinator in einem Industrieunternehmen, seit 2002 freiberuflicher Lektor, Publizist und Journalist, Literatur-, Musik-, Kultur-, CD- und Konzertkritiken für eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften, Vorträge, Linernotes, Presse- und Programmtexte für diverse Labels, Künstler und Veranstalter. Lebt in Halle (Saale).

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen

VG WORT Zählmarke