Literatur

Neue Erzählung von Autorin Glück: Existenzialismus des frühen Kindes

Louise Glücks wunderbare Erzählung „Marigold und Rose” ist wahrhaft ein Glücksfall der Literatur. Das Original stammt von 2022, nun ist es in deutscher Übersetzung erschienen

Von 
Hans-Dieter Fronz
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Louise Glück wurde für ihr lyrisches Werk 2020 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Nun ist eine poetische Erzählung von ihr erschienen. © D. Ebersole/dpa

Ein dünnes Büchlein über das erste Lebensjahr eines Zwillingspaars - und noch keiner und keine hat je poetischer über diese frühe Lebensphase und das Zwillingsdasein geschrieben als Louise Glück in „Marigold und Rose“. Nach landläufiger Klassifizierung würde man zwar von einer Erzählung sprechen. Es handelt sich aber, trotz Prosaform, um reine Poesie. Aus ersichtlichen Gründen ist die Zahl poetischer Veröffentlichungen zum Thema - frühe Kindheit - ja überschaubar. Kinder im Alter von null bis ein Jahr, von ihnen handelt das Buch, haben noch kein entwickeltes Bewusstsein und können ihr Erleben, ihre Gefühlswelt nur stark eingeschränkt kommunizieren.

Entwicklungspsychologen, wie Jean Piaget einer war, wären aus Profession vielleicht eher zu Aussagen darüber befähigt. Und doch, liest man Louise Glücks Buch: Was für ein Versäumnis bisher der Poesie! Glück, die amerikanische Dichterin, die für ihr lyrisches Werk 2020 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, hat in dem im Original 2022, in der vorzüglichen Übersetzung von Eva Bonné jetzt auch auf Deutsch erschienenen Buch einen Schatz gehoben, man möchte fast sagen: ein neues literarisches Genre begründet. In jedem Fall hat die im vergangenen Herbst verstorbene jüdischstämmige Dichterin darin ein poetisches Universum mit ganz eigenen Regeln geschaffen. Ein Glücksfall für die Literatur!

Infos zum Buch

Louise Glück: Marigold und Rose. Eine Erzählung.

Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné, Luchterhand Verlag., 64 Seiten, 18 Euro.

Es geht dem Buch in keiner Weise um Realismus, um Wahrscheinlichkeit; die Poesie schwingt vielmehr frei die Flügel. Rose und Marigold sind Zwillinge und noch kein Jahr alt. Und doch sind sie schon ganz individuierte Persönchen. Rose, die Erstgeborene, ist weltzugewandt und gesellig, Marigold zurückhaltend und reflektiert. Ja, reflektiert! Denn nicht nur haben sich beide, wie wir lesen, „binnen eines Jahres von Kaulquappen, die nicht einmal atmeten, zu echten, winzigen Menschen entwickelt“. Beide können auch schon denken, reflektieren. Marigold schreibt sogar an einem Buch.

Mit Märchen kann man den beiden nicht mehr kommen. Die Großmutter ist tot und soll angeblich im Himmel sein? Unverdrossen „buk sie im Herzen der Kinder weiterhin Kekse“. Marigold ist sogar eine echte Existenzialistin - „Alles wird verschwinden“, denkt sie - und hat „jüdische Schuldgefühle“. Die hat sie wohl vom Vater geerbt, der die „vollständige Palette jüdischer Schuldgefühle“ vorweisen kann. Marigold ist auch „heimatlos“.

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Wenn der Vater, dessen heimliches Lieblingskind sie ist, „mein kleiner Spiegel“ zu ihr sagt, nimmt sie es freundlich zur Kenntnis und „lächelt ihn auf ihre typische Weise an. Ganz unverbindlich“. Doch wenn beide Zwillinge „beide Elternteile zugleich wollten, dann nahm das Verhängnis seinen Lauf, meistens nach einer Impfung oder wenn sie zahnten“.

Es sind nicht zuletzt diese charmanten und oft rätselhaft anmutenden Schlüsse bar jeder Logik, in welche die meist nur aus wenigen Sätzen bestehenden Absätze ausklingen, die dem unvergleichlichen Werk seinen zauberischen Charme verleihen. Nach diesem Buch möchte man alles von Louise Glück lesen.

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