„I Walk Between the Raindrops“, übersetzt: „Ich gehe zwischen Regentropfen“. Trägt ein neues Buch von T. C. Boyle einen solchen Titel, ist Vorsicht geboten, nicht nur der fast lyrischen Note wegen. Dieser Titel ist einfach eine Spur zu wohlfühl-, zu idyllenmäßig, wirkt derart weichgespült und harmlos, dass – bei diesem Autor! – unverzüglich die Alarmglocken schrillen. Man beginne die Lektüre des Buchs also keineswegs, indem man sich in entspannter Vorfreude zurücklehnt. Diese ist zwar bei ihm stets angebracht. Doch der passionierte Boyle-Leser weiß auch, dass gerade bei diesem Schriftsteller Schönheit nichts anderes ist als der Anfang des Schreckens.
Auch und gerade, wenn die Natur mit im Spiel ist. Gleich die erste der (vielleicht nicht zufällig ausgerechnet 13) Stories des Bandes, die Titelgeschichte nämlich, erzählt denn auch von Katastrophen: menschlichen, aber auch Naturkatastrophen. Darin schließt der Erzählband nahtlos an den letzten Roman an, der in einer nahen Zukunft spielt und den Folgen der Klimakatastrophe ein Gesicht gibt, nebenbei: unter dem nicht minder sarkastisch irreführenden Titel „Blue Skies“.
Hier wie da, im Roman wie dem Erzählungsband, geht es um Waldbrände, Stürme und Überschwemmungen. Im Erzählband erinnert sich der Ich-Erzähler an eine solche Katastrophe. Die Schilderung seines Gangs durch die verwüstete Stadt gewinnt dabei eine apokalyptische, ja, der Erzähler selbst spricht von einer „ontologischen Dimension“.
Grauen erfüllt ihn. Im Kern handelt seine Geschichte von der Begegnung mit einer jungen Frau mit außersinnlichen Wahrnehmungen. Ihre therapeutische Diagnose teilt sie ihm vorausschickend gleich mit.
Die herzzerreißende Einsamkeit des Lebens macht sprachlos
In einer Kneipe wendet sich die einsame, in eine Psychose abgedriftete Frau an den gut aussehenden Mann. Der aber wartet auf seine Frau und will sich nicht mit ihr abgeben. Wenig später erfährt er, dass sie sich vor der Kneipe auf die Bahnschienen gelegt hat. Zwar kommt sie nicht zu Tode, wird vielmehr in die Psychiatrie eingeliefert. „Aber es war Valentinstag, und es war alles meine Schuld“. Am Ende spricht der Erzähler von der „unaussprechlichen, herzzerreißenden Einsamkeit des Lebens auf diesem Planeten“. Soviel zur vermeintlichen Poesie des Titels.
Die zweite Erzählung handelt von der Begegnung eines Nerds mit einer Frau mittleren Alters auf einer Zugfahrt; eigentlich jedoch kreist sie um einen Amoklauf in einem Studentinnenheim. Die Frau erkennt, dass Eric den jungen Studenten, der kurz zuvor sechs Studentinnen getötet hatte, kannte. Deutlich wird in dessen Schilderungen, dass auch er ein Nerd ist – „Jungfrau mit 23“. Der Amokläufer hasste die Frauen, weil sie nicht erkannten, wie sehr er sie liebte und es verdiente, von ihnen beachtet zu werden. Nichtbeachtung, Einsamkeit, dies die Erkenntnis, kann Ursache eines Massenmords werden. Wiewohl diese Herleitung nichts entschuldigt, entspricht sie doch einer Realität.
Eine der Stories ist eine Tragödie wechselseitigen Missverstehens und Misstrauens von geradezu Kleistscher Dichte. Andere Erzählungen mit Science-fiction-Charakter führen in eine Welt mit selbst fahrenden Autos, die mit ihren Besitzern Gespräche führen – und zur tödlichen Falle werden können; auch mit Robotern, die die Funktion von Ordnungshütern übernommen haben. Oder in die düster-dystopische politische Zukunft eines Staats, der seine Bürger bis ins Kleinste überwacht.
Ein lückenloses, vollautomatisches elektronisches „Soziales Bewertungssystem“ ist an die Stelle früherer Mittel der Sanktionierung getreten, sein Sinn: individualistische Strebungen im Keim zu ersticken.
Plädoyer gegen Tierversuche und esoterischen Naturkult
Eine der eindrücklichsten wie bedrückendsten Erzählungen ist „Der dreizehnte Tag“ – zeitlich angesiedelt in der Anfangsphase der Coronapandemie. Daneben plädiert eine Erzählung gegen Tierversuche; eine andere macht sich mit köstlichem Witz über den esoterischen Naturkult unserer Zeit lustig. Die Protagonisten nehmen an dem Kurs „Naturbaden“ im Naturparkparadies teil. Gegen seine giftige Schlangen und Getier hilft am Ende nur ein Elektrozaun.
Bekannt schnoddriger Tonfall des Erzählens, gewohnt hyperbolische Vergleiche wie die der Musik aus einer Jukebox, die den Ich-Erzähler der einleitenden Story beim Betreten der Kneipe „in Stadionlautstärke“ umschallt: T. C. Boyle at his best! Ganz allmählich fragt man sich, wann „God’s Own Country“ wohl gesinnt ist, das Menschenrecht auf wenigstens einen Band T. C. Boyle pro Jahr endlich in der amerikanischen Verfassung zu verankern?
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