Von den Philippinen bis Feuerland, von Flensburg bis Füssen: In Kindergärten, Schulen, Gemeinden, in Abertausenden von Inszenierungen wird an Weihnachten das Krippenspiel aufgeführt. Dabei stehen die Schauspieler in einer 800 Jahre alten Tradition: Erfunden haben soll das Stück über die Geburt Jesu der heilige Franziskus im Bergdorf Greccio im italienischen Latium. Rund 150 Kilometer sind es auf dem Franziskus-Pilgerweg von Assisi nach Greccio. In sieben Tagen machbar.
Immer wieder gibt es auf dem Wanderweg unscheinbare Krippendarstellungen. Etwa beim Aufstieg durch die Gassen ins Zentrum der Kleinstadt Spello: Dort stehen in einem Blumenbeet drei verwitterte Figuren aus glasiertem Ton: Maria, Josef und das Jesuskind trotzen Sonne, Regen und Frost. In Italien dient die Heilige Familie offenbar das ganze Jahr über als Vorbild. Ein paar Stunden Fußmarsch vor Greccio ist eine Holztafel an einer Leitplanke befestigt. Sie verweist auf einen Bildstock mit Jesu Geburt. Auf der Tafel steht: „Erleuchte uns, Herr, mit dem Beispiel der Familie, führe unsere Schritte auf dem Weg des Friedens.“
Am Nachmittag der siebten Tagesetappe geht es einen Berg hinab, und das Ziel taucht unvermittelt auf: Wie ein Schwalbennest klebt das Kloster von Greccio an einer Felswand. Wie still es hier ist! Vielleicht klingt deshalb das Plätschern des Brunnens so laut. Die Geschäftigkeit im Rieti-Tal erreicht die im letzten Tageslicht warmen Mauern nur als leises Summen.
Einer der vier Franziskaner-Brüder in der Einsiedelei fegt den Hof ohne Eile. Die Brüder lieben offenbar die Bedächtigkeit und nicht den Betrieb: Zwar bieten sie Wanderern laut Website eine Schlafstatt an, doch man müsse sie mindestens einen Monat im Voraus buchen.
Vom Hof führen ein paar Schritte hinab zur Grotte, in der laut Überlieferung Franziskus das allererste Krippenspiel inszenierte. Der Felsenraum ist niedrig und klein. „Vor 800 Jahren gab es hier kein Kloster, nur Höhlen“, erklärt Bruder Giovanni vor irischen Besuchern, die inzwischen per Reisebus eingetroffen sind. Franziskus habe seinen Freund, den Kastelan von Greccio, gebeten, alles vorzubereiten für ein lebendiges Weihnachten. „Er wollte die Not der Heiligen Familie nachstellen“, sagt Bruder Giovanni. So schrieb es sein erster Biograf Thomas von Celano auf: „Die Armut wird erhöht, die Demut gepriesen, und aus Greccio wird gleichsam ein neues Bethlehem.“ Aber gleichzeitig wollte er das Elend der Familie gemildert sehen, führt Bruder Giovanni aus. Deshalb ließ er Stroh bringen und einen Ochsen und einen Esel, diese sollten die Grotte mit ihren Körpern wärmen. So sollen die Tiere, von denen in der Bibel nicht die Rede ist, in die Weihnachtskrippen weltweit gekommen sein.
In der Grotte sieht man Fresken aus dem 14. Jahrhundert. In einem der Bildnisse stillt Maria das Jesuskind. In einem weiteren Fresko kniet Franziskus an der Krippe mit dem Kind. Eine Reminiszenz an den Biografen Celano: Während des Krippenspiels in Greccio war die Krippe zunächst leer. Dann aber, während des Spiels, soll das Jesuskind plötzlich erschienen sein. Das Heu habe danach viele Wunder bewirkt. Wer es berührte, sei von allerlei Krankheiten geheilt worden.
Das Bergdorf Greccio liegt zwei Kilometer vom Kloster entfernt, dort hat Veronica Galloni (43) eine Frühstückspension für Pilger aufgemacht. Seit 20 Jahren spielt sie an Weihnachten in der Laienspielgruppe von Greccio mit. Die Schauspieler tragen mittelalterliche Kostüme und Kutten, manche sind barfuß, trotz der Kälte: Sie spielen nach, wie Franziskus einst das Krippenspiel aufführte. „Ich bewundere Francesco sehr“, sagt Veronica, „weil er so für seine Werte einstand.“
Als junger Mann brach er mit seinem reichen Kaufmannsvater, warf ihm die teuren Kleider vor die Füße. „Auch ich bin einer Art Berufung gefolgt“, sagt Veronica. Sie hatte Jura studiert, war Anwältin. „Aber die Justiz ist schwierig in Italien, alles dauert sehr lange.“ Eines Tages entschied sie, die Robe für immer abzulegen. Sie wurde Lehrerin für Kinder mit Beeinträchtigungen: „Ich kann sie fördern und Werte vermitteln. Das macht mich glücklich.“
Manchmal erzähle sie im Unterricht von Franziskus. Wie er an der Quelle oberhalb von Greccio mit den Tauben sprach. Wie er in der Stadt Gubbio zwischen den Einwohnern und einem Wolf vermittelte (die Abmachung: Die Menschen versorgten den Wolf mit Futter, und der Wolf hörte auf, Vieh und Menschen anzugreifen). Die Kinder saugen die Geschichten auf: „Für sie ist es leicht, Franziskus zu verstehen.“
Vor dem Abstieg zum Bahnhof im Rieti-Tal am nächsten Morgen ein erneuter Besuch im Kloster: Die Sonne steht flach über der Nebeldecke im Tal. Es sind nur fünf Menschen da: Enrico (82) und Giovanna (79) feiern ihre goldene Hochzeit. Der Freudentag soll in der Grotte beginnen. Denn schon die Eltern des Jubilars hätten ihre Hochzeit und auch ihre goldene Hochzeit am Ort des ersten Krippenspiels gefeiert. „Wir wollen Danke sagen für die Familie. Und wir wollen für den Frieden beten“, erklärt Schwiegersohn Marco (50). „Die Welt hat es nötig.“
Was aber braucht es für eine so lange Ehe, für eine gelingende Familie? „Toleranz“, sagt Jubilarin Giovanna. „Geduld“, ergänzt Jubilar Enrico. Claudio, der Bruder von Enrico, hat sich bei seiner Nichte Annalisa eingehakt. Trocken wirft er ein: „Ach was! Es ist vor allem die wunderbare Tochter, die sie zusammengehalten hat.“
Annalisa (47), eine Lehrerin, lächelt fein. Marco, ihr Mann, ist als Maschinenbauingenieur viel auf Reisen im Ausland. „Die Leute glauben, für uns Italiener sei gutes Essen am wichtigsten“, sagt er. „Dabei ist das Essen nur Mittel zum Zweck. Ein Werkzeug, um zu leben, was am wichtigsten ist: die Familie.“
Die kleine Gesellschaft will ins Tal, sie haben einen Tisch bestellt. Völlig einsam liegt jetzt die Grotte mit den Fresken, das Kind in der Krippe, dessen Heu wundertätig war. Aber wer will sich schon auf Wunder verlassen? Vielleicht kann man nicht nur von der Heiligen Familie lernen, sondern auch von dem Jubelpaar. Toleranz, Geduld und gutes Essen: eine handfeste Anleitung aus Greccio, für Weihnachten und darüber hinaus.
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