Am Vorabend des letzten Buga-Tages war ich noch mal auf dem Spinelli-Gelände. Vor der Hauptbühne tummelten sich Tausende. Die Schätzungen liegen zwischen 4000 und 5000 Menschen. Es war, als würde gleich eine blonde US-amerikanische Schönheit wie Taylor Swift auf die Bühne kommen und dort einen Ohrenschmeichler-Hit ins Mikro singen. Es waren unfassbar viele Teenager da, aber auch Omis, Opis, Papis und Mamis und solche, die es vielleicht irgendwann oder eben nie werden. Um es kurz zu machen: Es war ein generationenübergreifendes Mega-Event, wie man es selten erlebt.
Der Mannheimer Dirigent Tristan Meister war auch da, was schwer zu übersehen war, stand er doch auf der Bühne am Pult eines kolossalen Ensembles aus dem Sinfonieorchester der Musikschule aus dem verschuldeten, armen Ludwigshafen, dem linksrheinischen Beethovenchor aus ebenda und dem rechtsrheinischen Kinderchor des armen verschuldeten Nationaltheaters. Solisten komplettierten alles. Es war ein überwältigender Anblick.
Noch überwältigender war freilich, als wie aus 1000 Kehlen das „Fortuna Imperatrix Mundi“ erklang. Obwohl von den – sagen wir mal – 5000 Leuten mindestens 3000 stehen und teilweise auch an den Imbiss-Buden anstehen mussten, um noch eine Currywurst mit Pommes oder einen Aperol Spritz zu ergattern und dieser Umstand nicht unbedingt gut zum Text des Glücks als Kaiserin der Welt passte, entstand ein ereignishaftes Momentum der Trunkenheit, vor der zumindest wir, ich und mein Rücken uns nicht ganz schützen konnten. Kalte Schauer verwandelten meinen Rücken in eine 100-Meter-Tartanbahn. Es war pures Glück.
Ich fühlte mich aber jäh daran erinnert, dass der Komponist dieser „Carmina Burana“ auch die Eröffnungsmusik der Olympischen Spiele von Berlin im Jahr 1936 geschrieben hatte: „Einzug und Reigen der Kinder“. Natürlich habe ich mich sofort gefragt, ob man sich so etwas anhören darf in diesen Zeiten, in denen so viel diskutiert und quasi verboten oder gecancelt wird, weil es politisch nicht mehr geht. Kann man noch Wagner hören, nachdem man seine antisemitischen Texte gelesen hat? Kann man noch Rammstein hören, nachdem man mitbekommen hat, was nach Rammsteinkonzerten so Backstage passiert sein soll? Kann man Gesualdo hören, wenn man glaubt, dass er seine Frau und Kinder gemordet hat? Ja, und kann man Orffs „Carmina Burana“ hören, wenn man weiß, dass Orff mehrere Aufträge der Nationalsozialisten angenommen hat und auf Hitlers Gottbegnadeten-Liste stand und daher nie an die Front musste?
Vielleicht kann man all dies, denke ich, aber bitte nicht, ohne all den Hintergrund im Hinterkopf zu haben. Die „Carmina Burana“, von Tristan Meister(haft) dirigiert, sind meisterhafte Überwältigungsmusik, die in der Lage ist, Gefühle in uns auszulösen, die ich nicht möchte. Deswegen schaltete ich auf der Buga dann auch die Überwältigung aus und die Erinnerungskultur ein. So hörte ich immer noch exzellente Musik, aber ohne überwältigt zu sein.
Schreiben Sie mir: mahlzeit@mannheimer-morgen.de
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/leben_artikel,-ansichtssache-darf-man-sich-von-den-carmina-burana-ueberwaeltigen-lassen-_arid,2135457.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.demailto:mahlzeit@mannheimer-morgen.de