Kolumne #mahlzeit

Ist der Mensch auch nur ein Abklatsch eines Originals?

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Während Corona kam und wir uns aus Angst vor dem Tod das Leben verboten haben, hat eine tote Materie das Werk eines toten Komponisten vollendet. Die tote Materie heißt Künstliche Intelligenz. Der tote Komponist heißt Beethoven und lebt weiter – in die Unendlichkeit hinein. Es geht um die zehnte Sinfonie. Man muss wissen: Ich bin Fan. Ich finde Beethoven noch besser als Bach, obwohl Bach größer war, Mozart genialer und Wagner eingebildeter. Kaum jemand wusste, dass es von Beethoven eine Zehnte gibt. Die tote Materie hat das wohl übers Internet rausgekriegt. Die macht so was – zusammen mit ihren Freunden, den Algorithmen.

Also: Der Zufall wollte es, dass ich neulich vor einem Teller Schwarzer Brotsuppe saß, als plötzlich Beethoven da war. Er war zornig wie immer und sagte: „Von meiner Zehnten gibt es nur ein paar Skizzen. Und nun wollen diese …“, er überlegte, „… diese Wissenschaftler und Rechner meine Gedanken lesen? Tu was dagegen, Detti. Bitte!“ Man muss wissen: Er hat sich wie Alya, Bela und Caro angewöhnt, mich Detti zu nennen. Warum? Ich weiß es nicht. Aber mir gefällt das. Beethoven schaut immer mal wieder bei mir rein. Er bleibt nur kurz. So war es auch da. Plötzlich waren da wieder nur noch die Suppe und ich.

Künstliche Intelligenzen, so geht es mir jetzt durch den Kopf, arbeiten doch immer mit dem, was man ihnen einimpft. Sie handeln nach Wahrscheinlichkeiten. Aber Kunst ist doch immer das Gegenteil davon: das Unwahrscheinliche. So war es zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwa absolut unwahrscheinlich, dass da einer kommt, der den Orchesterstreichern und der Klarinettistin befehlen würde: Spielt mal alle dreimal ein schnelles G, dann ein langes Es! Beethovens Fünfte hätte ein Computer niemals erfinden können, weil es so abwegig war, dass das jemand so schreibt. So brutal! So verstörend! So primitiv!

Außerdem entrückt uns Kunst von der Wirklichkeit und lässt uns uns selbst als Fremdheit erfahren. Wir fallen in der Auseinandersetzung mit ihr auf uns selbst zurück, stehen neben uns und erkennen uns als Mensch. Mit allen Stärken und Schwächen. Sollte eine Künstliche Intelligenz, also eine KI, in der Lage sein, sich selbst als KI zu identifizieren und ihre Stärken und Schwächen erkennen? Wir wären in der Welt, die James Cameron in seinen „Terminator“-Filmen beschrieben hat, in denen Maschinen autonom handeln und die Weltherrschaft anstreben. Sind wir nun soweit?

KIs malen auch. Das habe ich neulich in einem großen Wochenmedium gelesen. Die Bilder, die ich von KIs im Internet finde, sehen irgendwie alle aus „wie“: wie Rembrandt, wie van Gogh, wie Bacon. Na ja. Vielleicht leben wir ja auch in einer Welt, die sich eine Art KI ausgedacht hat, sagen wir: Gott! Dass wir nicht so sind, wie er wollte, ist klar. Aber sind wir Menschen auch nur „wie“? Wie etwas, das es schon mal gab? Abklatsch?

Nein, so etwas Unwahrscheinliches wie den Menschen könnte sich eine KI niemals ausdenken. So brutal! So verstörend! So primitiv! Eindeutig: Wir sind Schöpferwerk. Aber der Typ könnte sich ruhig mal wieder blicken lassen.

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Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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