Es ist ein Schock: Alya ist kahl. Ihr Haar ist weg. Ratzeputz. Ihr Kopf wirkt entstellt, ihre Gesichtszüge um die dunkelbraunen Picasso-Augen werden plötzlich sehr markant, ja, gewaltig, man sieht sogar die Ohren mit dem goldenen Knopf. So steht sie angriffslustig da und wirkt ihrerseits schockiert von unseren schockierten Blicken, selbst Caro entfährt ein etwas spöttisches „Huch!“
„Was ist?“, fragt sie. Als wüsste sie nicht, was los sei.
„Alya? Du hast …“, sagt ein sie entgeistert anstarrender Bela, „du bist … deine Haare … man erkennt dich ja kaum wieder.“
„Ja-haaa! Ich habe mir den Kopf rasiert, wie ihr unschwer sehen könnt. Energiesparende Nassrasur!“ Alya wirkt ziemlich genervt. „Was ist euer Problem?“
Bela schaut mich an. Ich schaue zu Caro. Die will wissen: „Warum?“ Nun erzählt Alya von Robert Habeck und Winfried Kretschmann, vom Duschen, von purpurfarbenen Waschlappen mit Herzornamenten und davon, dass Alya und ihr Freund, dessen Namen mir aufgrund seiner Komplexität nicht einfällt, beschlossen haben, den Konsum vor allem von Warmwasser radikal zu reduzieren. Daher, so Alya, wollen sie nur noch einmal die Woche duschen und sparen durch die Glatzköpfigkeit auch das verschwenderische Haarewaschen. Alya: „Ich finde, alle Frauen sollten die Haare jetzt zumindest kurz tragen.“
Ich finde den Ansatz innovativ. Statistiker sagen, 65 Prozent der Deutschen duschten mindestens einmal am Tag – durchschnittlich acht bis zwölf Minuten mit rund 40 Litern Wasser von rund 37 Grad Celsius. Jeder weiß ja mittlerweile von meinem Faible für Zahlen (die, wie ein Leser mich per Mail hinwies, leider nicht immer fehlerfrei sind). Trotzdem rechne ich: Rund 54 Millionen Deutsche (65 Prozent von 83 Millionen) verbrauchen damit täglich mindestens 2,12 Milliarden Liter Warmwasser. 2 120 000 000 Liter! Da ist eine Menge Gas, Strom oder was immer nötig – und bei 14 Kilogramm CO2 pro 1000 Liter sind das sage und schreibe 29 680 Tonnen CO2. Nur für Warmduscherinnen!
„Ich finde unser Handeln nicht nur moralisch“, meint Alya, „wir folgen damit sogar einer Maxime, deren Gültigkeit für alle immer und ohne Ausnahme akzeptabel wäre. Das ist reine Vernunft!“
„Du willst jetzt hoffentlich nicht aus deinem kahlgeschorenen Schädel Kant und seinen kategorischen Imperativ ableiten, hoffe ich“, sagt Caro. „Ertappt“, meint Alya – und einen Moment herrscht, ein Wunder in dieser Runde, absolute Stille.
„Ich finde Frauen mit langen Haaren attraktiver“, sagt Bela jetzt mutig, und weil er weiß, dass er mit so einem Macho-Spruch die Lunte zu einer Tonne Dynamit namens Caro angezündet hat, steht er sogleich auf, sagt, er habe nun zu tun, und geht. Caro kocht. Man sieht es. Sie, die ihr blondes Haar wahrscheinlich noch nie lang getragen hat, fühlt sich doppelt provoziert. Ich selbst wandle Daniela Katzenbergers „Sei klug, stell dich dumm“ um in ein „Sei klug und halte das Maul“. Deswegen schließe ich die Augen, hole tief Luft und hauche, um den Einklang von Körper, Geist und Seele herzustellen, innerlich ein „Om“.
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