So, so, ein Chip im Hirn soll mit unserem Bewusstsein verschmelzen. Das sind Sachen. Vorerst aber sitzen wir hier noch ohne KI rum, in diesem versifften Laden, der früher mal ein Friseur war. Die Tischdecke schief, das Licht zu grell. Ich schaue zu Bela, wie er da sitzt und mit finsterer Miene Rachmaninow vor sich hinsummt, die Hand auf dem Kaffee und die Seele in den Wolken. Caro sitzt nervös neben ihm. Aufgeklapptes Laptop. Ich hatte den beiden eine halbe Stunde lang ein Interview mit dem Technik- und Transhumanistenfreak Ray Kurzweil vorgelesen. Nun funken die Kurzweil'schen Visionen zwischen uns im Dreieck. Wie schlechte Elektrik.
Kurzweil, hatte ich gelesen, habe errechnet, dass künstliche Intelligenz die menschliche in vier Jahren übertreffen werde: „Ich rechne damit, dass wir 2029 in der Lage sein werden, die rund 20 Milliarden Neuronen des Neokortex unseres Gehirns in direkte Verbindung mit einem Computer zu bringen. Durch Implantate zum Beispiel.“ Ich weiß zwar, dass der Typ aus dem Silicon Valley kein totaler Trottel ist, aber: Will ich das? Ich sage: „Äh …“ Doch Bela ist schneller und schießt sofort: „Ist das nicht wunderbar! Wir verschmelzen mit der Maschine. Keine Grenze mehr zwischen Denken, Datenabfrage und Seele. Wir sind dann selbst Genies, Goethe, Beckett, Kafka, Einstein, Rachmaninow, ja, ich werde Serge sein und sein fünftes Klavierkonzert uraufführen.“
„Du spielst furchtbar“, sagt Caro. Dann nicht mehr, meint Bela, die Zukunft sei exponentiell besser und der Mensch werde endlich befreit vom lächerlichen Gehirn in seinem knöchernen Gehäuse! „Das ist doch mehr als Trost, oder? Das ist Wahnsinn!“
Ein eiskalter Alptraum, meint Caro: „Diesen Fortschrittsrausch – das kennen wir, am Ende steht der seelenlose Mensch und Krieg, weil KI uns nun mal keine Empathie verordnen kann. Da sitzen wir dann mit unserem KI-Implantat, wissen alles, fühlen nichts, das heißt: Die KI sagt uns dann, was wir fühlen und denken sollen. Tschüss Mensch.“
„Bela hat insofern recht“, sage ich, „als die nächste Generation (fast) immer recht hat.“ Es sei eh alles längst entschieden: Der Fortschritt gewinne, der Mensch verliere bestenfalls nur Illusionen, schlimmstenfalls den Job. Seit der ersten Papyrusrolle, seit dem ersten Federkiel, seit dem ersten Computer, schreie der Mensch auf, wenn die nächste Stufe anstehe. Und jedes Mal seien wir ein wenig weiter degeneriert, ein wenig weiter vorangekommen, sage ich: „Die KI ist nur die konsequente Fortsetzung des Wahnsinns, den wir Zivilisation nennen. Wir sind Geburtshelfer der eigenen Überflüssigkeit.“
Caro sieht verbittert aus. „Aber diesmal bleibt nicht mal mehr Verweigerung“, sagt sie traurig, „Wer nicht mitmacht, den verschlucken die Algorithmen. Angst ist keine Option mehr, Widerstand leisten nur noch Maschinen. Ich will aber das letzte Gefühl retten, das wir irgendwann verlieren werden.“ Sie nippt an ihrer Tasse. „Und jetzt ist auch noch mein Kaffee kalt.“ Hätte eine KI das verhindert?
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/leben_artikel,-ansichtssache-wir-und-der-chip-im-hirn-_arid,2326302.html
Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kolumne #mahlzeit Wir und der Chip im Hirn
Ein Chip im Hirn, der mit dem Bewusstsein verschmilzt: Vision oder Albtraum? In der Truppe um Kolumnist Stefan M. Dettlinger ist da Streit programmiert.