Zeitreise

Benediktinerabtei Hirsau im Nagoldtal: Vom bedeutenden Kloster zur Ruine

Sie war lange das baulich größte Kloster im deutschsprachigen Raum: die Benediktinerabtei Hirsau im Nagoldtal. Geblieben sind davon nur wenige Gebäude, eine stimmungsvolle Ruinenlandschaft und eine Kirche.

Von 
Peter W. Ragge
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Überwiegend nur Mauern sind erhalten vom Kloster Hirsau. Links oben die Marienkapelle, rechts oben die Ruine des Jagdschlosses. Bilder: SSG/Guenther Bayerl © guenther-bayerl

Mannheim. Stille. Dunkelheit, durchbrochen von wenigen Lichtstrahlen, die durch die schmalen Fenster fallen. Dann erklingt plötzlich leise Musik, berührend, anrührend. „Laudate omnes gentes“ (Lobsingt ihr Völker alle) und „Meine Stärke, mein Licht, auf dich vertrau ich und fürcht mich nicht“. Es ist ein meditativer Moment, der hier in der Marienkapelle in Hirsau gut bewusst macht, wo man sich befindet – auch wenn es moderne geistliche Lieder aus Taize sind, die in den Mauern dieses spätgotischen Gotteshauses erklingen.

„Sie stehen auf heiligem Boden“, machen Schilder den Besuchern deutlich. Viele Jahrhunderte lang sei hier gebetet worden. In der Marienkapelle wird bis heute gebetet. Der von 1508 bis 1516 errichtete Sakralbau, einst Krankenkapelle und im Obergeschoss unter einem imposanten Dachstuhl und in Holzschränken mit reichen Schnitzereien Heimat der üppigen Klosterbibliothek, dient nun als evangelische Kirche.

Neben ein paar Wirtschaftsbauten ist die Marienkapelle das einzige Klostergebäude, das noch unversehrt besteht. Umgeben wird sie von einer eindrucksvollen Ruinenlandschaft. Sie lässt nur erahnen, dass das einstige Benediktinerkloster nicht nur baugeschichtlich von hoher Bedeutung, sondern ebenso über Jahrhunderte geistlicher und wirtschaftlicher Mittelpunkt der Region gewesen ist.

1049 - ein Papst kommt zu Besuch

Nicht alles ist kaputt. Die Küferei dient als Grundschule, das Gehöft als Pfarramt, der große Fruchtkasten – Lagerort der Abgaben der Bauern an das Kloster – passenderweise als Finanzamt. Von den mächtigen, bis zu 1,50 Meter dicken Klostermauern steht aber nur noch ein kleiner Teil. Die prächtige Klosterkirche St. Peter und Paul, die mit einer Länge von 97 Metern zu den imposantesten der deutschen Romanik zählte, ist nahezu dem Erdboden gleich gemacht. Man sieht vermooste, teils verkohlte, abgebrochene Steine, zerborstene Mauern, herumliegende Brocken, Fragmente vom Kreuzgang mit steinernen Fensterbögen, an denen ein Teil der Ornamente erhalten ist, sowie mit massiven Stahl- und Holzträgern abgestützte Wände.

Vom Jagdschloss des württembergischen Herrschers, das er nach der Reformation errichtete, steht nur noch ein Teil der Außenmauern, © guenther-bayerl

Aus den Trümmern ragt der 37 Meter hohe Eulenturm heraus, um 1120 fertig gestellt als der nördliche Teil der Doppelturmfassade, die einst mit der Vorkirche das Gebäude der romanischen Klosterkirche nach Westen hin abschloss. Das südliche Exemplar ist verschwunden. Die Quader aus rotem Buntsandstein werden unterbrochen durch ein um die ganze Fassade herum laufendes Fries mit Menschen- und Tierdarstellungen, darunter zähnefletschende Löwen oder Panther, Ziegenböcke und bärtige Männergestalten. Ihre Bedeutung ist unklar.

Erste Siedlungen sind hier, am östlichen Rand des Nordschwarzwalds, bereits seit dem achten und neunten Jahrhundert belegt. So weit zurück reichen Hinweise auf ein erstes Kloster, dessen Gründungsdatum indes offen ist – eine kleine Zelle könnte schon ab 768 gewirkt haben. Um 830 gelangen Reliquien des heiligen Aurelius (um 400 bis etwa 475), Bischof von Armenien, aus Italien ins Nagoldtal. Bischof Noting von Vercelli, ein Vorfahre der Grafen von Calw, bringt sie seinem Vater mit, der hier Güter besitzt. Dieser habe dann auf eigenem Grund eine Mönchsgemeinschaft ins Leben gerufen, heißt es. Doch über ihr Schicksal ist nichts bekannt und kein Gebäude davon übrig.

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Aber 1049 kommt hoher Besuch in die Gegend. Papst Leo IX. schaut bei seinem Neffen Adalbert, Sohn seiner Schwester und später „von Calw“ genannt, vorbei. Er ermahnt ihn, in den Ruinen des ersten Aurelius-Klosters in Hirsau nach den Gebeinen des heiligen Aurelius suchen zu lassen und das Kloster wieder aufzubauen. Der Adelige willigt – wenn auch mit Verzögerung – ein, stattet das neue Kloster mit eigenen Gütern aus und beruft 1065 zwölf Benediktiner aus Einsiedeln (Schweiz) nach Hirsau. Die inzwischen verloren geglaubten Reliquien werden tatsächlich wieder gefunden und in einem Gewölbe unter der Aureliuskirche bestattet.

Im 11. und 12. Jahrhundert gelangt das Kloster zu besonderer Bedeutung. Es wächst und wird 1075 direkt dem Papst unterstellt. Zeitweise leben hier bis zu 150 Mönche und eine Vielzahl von Laienmönchen (Konversen), welche die körperliche Arbeit verrichten. Daher entsteht – ergänzend zum Aureliuskloster – auf dem linken Ufer der Nagold ab 1082 eine weitere, viel größere Anlage mit der neuen, im Mai 1091 geweihten Peter- und Paulkirche.

Peter- und Paulskloster wird zu einer der einflussreichsten Abteien im Reich

Die Ruinen zeigen, dass es sich um einen langgestreckten dreischiffigen Baukörper handelt, Langhaus und Seitenschiffe jeweils sieben Säulen und zwei Pfeiler voneinander getrennt sind. Zum Zeitpunkt ihrer Errichtung gilt St. Peter und Paul als das baulich größte Kloster im deutschsprachigen Raum, die größte Kloster-Basilika nördlich der Alpen und eines der größten romanischen Bauwerke im Südwesten.

Das Peter- und Paulskloster wird zu einer der einflussreichsten Abteien im Reich. Abt Wilhelm entwickelt hier 1079 in seiner Hirsauer Verfassung („Constitutiones Hirsaugienses“) die Reformen der französischen Abtei in Cluny weiter, die gegen die Verweltlichung der Kirche und für eine viel strengere Auslegung der Benediktsregel eintritt – mit noch mehr Askese, noch mehr Disziplin und noch mehr Gehorsam. Da werden aber selbst solche Details geregelt, dass die Mönche nur zweimal jährlich baden und ihre Fußnägel nur samstags schneiden dürfen oder eine Zeichensprache zur Einhaltung des strikten Schweigegelübdes entwickelt. Aber so streng sie klingen – die Regeln entfalteten eine große Wirkung, finden viele Anhänger. Hirsau gilt als Ausgangpunkt und prägend für über 120 Klöster von Alpirsbach bis Zwiefalten. Prägend wird ebenso der vom Schmuck her schlichte, aber den Gebäudedimensionen her monumentale Baustil. Hirsau übernimmt dabei genau den Grundriss der burgundischen Reformabteil Cluny II, 955 bis 980 erbaut. Zugleich legt der Abt, damit sich die adligen, geweihten Mönche auf ihre geistliche, spirituelle Aufgabe konzentrieren konnten, wert auf die Berufung vieler Laienbrüdern für die körperliche Arbeit.

Tipps für Besucher

Adresse: Kloster Hirsau, Klosterhof 9, 75365 Calw

Öffnungszeiten: Klosteranlage St. Peter und Paul und Außenanlagen St. Aurelius tagsüber frei zugänglich, Marienkapelle Winter geschlossen, Sommer Montag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr

Führungen: Meist werden sonntags um 14 oder 14.30 Uhr Führungen zu bestimmten Themen angeboten. Treffpunkt Klostermuseum

Klostermuseum: 1. November bis 31. März geschlossen, 1. April bis 31. Oktober Dienstag bis Freitag 13 bis 16 Uhr, Samstag, Sonntag, Feiertag 12 bis 17Uhr

Eintritt Klostermuseum: Erwachsene 2,50 Euro, Ermäßigte 1,50 Euro.

Anfahrt: Kulturbahn Linie Pforzheim – Horb – Tübingen. Ab Bahnhof Hirsau ca. zehn Minuten Fußweg. Mit dem Auto über die B 296. Klostergelände und Klostermuseum sind nur wenige Meter voneinander entfernt, man muss nur die steinerne Brücke über die Nagold laufen.

Entdeckungstour für Familien: Ein neu entwickelte Rallyebogen liegt in der Touristinformation in Calw sowie im Klostermuseum Hirsau aus. pwr

Eine zentrale kirchenpolitische Rolle spielt Hirsau im sogenannten Investiturstreit 1075 bis 1122. Papst Gregor VII. und Kaiser Heinrich IV., der später den Bußgang nach Canossa antreten muss, ringen erbittert darum, wem das Recht zur Berufung hoher Kirchenfürsten zusteht – und Hirsau steht nicht nur klar auf päpstlicher Seite, sondern das Kloster gilt als propagandistische Speerspitze in der heftigen Auseinandersetzung um kirchliche Privilegien.

Im 14. Jahrhundert gerät die Abtei in wirtschaftliche Schieflage, kann sich aber wieder erholen und einen neuen, größeren Kreuzgang sowie die Marienkapelle errichten. 1488 werden auch die Reliquien des Aurelius von ihrer bisherigen Ruhestätte im alten Klosterteil in die Kirche St. Peter und Paul überführt.

Einen tiefen Einschnitt bedeutet für das Kloster die Reformation. Herzog Christoph von Württemberg führt sie 1534 ein und säkularisiert, auch gegen den Widerstand der Äbte und Konvente, alle Klöster in seinem Land. Hirsau wandelt er im Jahr 1556 in eine evangelische Klosterschule um, lässt weitere Wohn- und Wirtschaftsgebäude errichten. Von 1589 bis 1593 baut er zudem anstelle des mittelalterlichen Abtshauses im Stil der Renaissance ein repräsentatives dreiflügeliges Jagdschloss, von dem aus er mit Gefolge im Schwarzwald zur Jagd ausreitet oder Kur- und Badeaufenthalte macht.

Brand bedeutet Ende der Klosterschule

Aber diese Pracht ist nur von kurzer Dauer. Im September 1692 brennen im Pfälzischen Erbfolgekrieg französische Truppen unter Führung von General Melac, die auch in der Kurpfalz enorme Verwüstungen anrichten, Kloster wie Jagdschloss nieder. Nur der Torturm und die Marienkapelle halten strand, der Turm dient danach zeitweise als Gefängnis und heute der evangelischen Kirche als Glockenturm. Der Brand bedeutet das Ende der Klosterschule.

Danach bleiben die Trümmer einfach liegen, werden sich selbst überlassen und bald ausgeschlachtet für den Wiederaufbau von den umliegenden Dörfern. 150 Jahre dient die weitgehend herrenlose Anlage als Steinbruch. In der leerstehenden Wagenremise des Klosters, die als Turnhalle dient, wird am 18. Oktober 1816 der erste Turnverein Württembergs gegründet – sogar als einer der ersten deutschlandweit.

Im Klostermuseum sind Teile der Gebäudezier erhalten. © guenther-bayerl

Erst ab dem 19. Jahrhundert nimmt sich der württembergische Staat wieder der Anlage an und verbietet die Nutzung als Steinbruch. Es ist jene Zeit, in der Romantiker auch ihre Liebe zum Heidelberger Schloss entdecken und für den Erhalt eintreten. Die Hirsauer Ruinen macht der Tübinger Lyriker und Politiker Ludwig Uhland (1787–1862) bekannt, als er 1829 dem aus dem Jagdschloss herauswachsenden mächtige Baum sein Gedicht „Ulmenbaum“ widmet: „Zu Hirsau in den Trümmern Da wiegt ein Ulmenbaum Frischgrünend seine Krone Hoch überm Giebelsaum“. 1989 muss der prachtvolle, 200 Jahre alte Baum aber wegen einer Krankheit gefällt werden.

Denkmalcharakter wird den Klosterresten indes erst ab 1925 und dann komplett ab 1990 zugebilligt. Anlässlich der Wiederherstellung der Aureliuskirche kehrt 1956 ein kleiner Teil der Reliquien, die im Zuge der Reformation aus Hirsau abtransportiert werden, zurück. Der berühmte Künstler Otto Herbert Hajek hat eigens einen eindrucksvollen Schrein für sie gestaltet. Seit 1991, dem 900. Jahrestag der Weihe von St. Peter und Paul, richtet die Stadt direkt neben Aurelius in einem ehemaligen herzoglichen Amtshaus auch ein Klostermuseum ein, das bauliche Reste ebenso präsentiert wie Beiträge zur Klostergeschichte sowie zur Ortsgeschichte.

Redaktion Chefreporter

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