Er will doch nur ins Theater. Edwin Allan Lightner und seine Frau interessieren sich für ein Gastspiel aus der Tschechoslowakei in der Oper unter den Linden. Er ist es gewohnt, auf dem Weg dorthin durchgewunken zu werden, das ist sein Recht als Vizechef der US-Vertretung in Berlin. Aber an diesem Tag, dem 22. Oktober 1961, wird er auf der Fahrt von Berlin (West) nach Ost-Berlin von DDR-Grenzern gestoppt - am Übergang Checkpoint Charlie. Sein geplanter Theaterbesuch wird zur Konfrontation der Supermächte USA und Sowjetunion, aus der nur mit viel Glück und Besonnenheit kein neuer Krieg erwächst.
Der Zweite Weltkrieg ist gerade erst 16 Jahre her, der Mauerbau der DDR wenige Wochen. Und plötzlich droht der Kalte Krieg wieder heiß zu werden. Die Amerikaner pochen auf dem Viermächtestatus der Stadt. Danach haben die Vertreter der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges – USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – überall freie Fahrt. Dazu dienen die den Alliierten vorbehaltenen Kontrollstellen wie der Checkpoint Charlie. Benannt sind sie nach dem internationalen Alphabet: Checkpoint Alpha heißt der Übergang Bundesrepublik/DDR bei Helmstedt, Bravo der bei Dreilinden/Drewitz zwischen DDR und Berlin (West). Und bei Charlie geht es von Berlin (West) in den Ostteil - über die Friedrichstraße.
Als Lightner hier vorfährt, wollen ihn DDR-Grenzsoldaten kontrollieren. Nach dem Viermächtestatus steht ihnen das nicht zu, nur einem sowjetischen Offizier. Aber es kommt keiner. Da ruft der US-Diplomat Lucius D. Clay an. Der legendäre General des Zweiten Weltkriegs ist, obwohl pensioniert, nach dem Mauerbau von US-Präsident John F. Kennedy in die geteilte Stadt entsandt worden. Clay beordert US-Militärpolizei zum Checkpoint Charlie. Zwei Jeeps und acht bewaffnete US-Militärpolizisten zu Fuß eskortieren Lightner an den DDR-Grenzern vorbei. Ob er noch rechtzeitig ins Theater kommt, ist nicht überliefert. Aber längst geht es ums Prinzip.
In den folgenden Tagen stoppen mehrfach DDR-Grenzer US-Militärs, immer müssen sie die freie Fahrt erzwingen. DDR-Staatschef Walter Ulbricht will seine Macht auch über Berlin demonstrieren. Lucius D. Clay hält dagegen, lässt erstmals am 25. Oktober 1961 zehn Panzer am Checkpoint Charlie auffahren. Einige der M 48 haben Räumschilde - was in Moskau alle Alarmglocken läuten lässt. Schließlich soll die US Army heimlich geübt haben, die Mauer wieder einzureißen. Aber die US-Panzer rücken wieder ab - um am nächsten Tag wiederzukommen. Nun rollen auch sowjetische T 54 zum Checkpoint Charlie. Die Panzer der Supermächte haben die Kanonen aufeinander gerichtet.
Sandsäcke sind längst aus Beton
Erst geheime Verhandlungen auf der Ebene der Stadtkommandanten beenden den Nervenkrieg. Die DDR muss darauf verzichten, US-Vertreter zu kontrollieren. Doch die Bilder von dem Panzeraufmarsch gehen um die Welt und machen Checkpoint Charlie zum Mythos. Touristen aus aller Welt strömen heute noch zu dem weißen Holzhäuschen mit dem Schild „Allied Checkpoint“. Die Sandsäcke, die einst vor Beschuss schützen sollten, sind längst aus Beton - aber immer noch ein beliebtes Fotomotiv.
Nach dem Fall der Mauer will Berlin schnell alles, was an die schlimme Phase der Teilung erinnert, loswerden. Am 22. Juni 1990 wird das Holzhaus daher nach einer kleinen Zeremonie abgebaut - noch vor der Deutschen Einheit. Aber der Tag ist bewusst gewählt. Nach der Zeremonie führen die Außenminister der vier Siegermächte, Vertreter der Bundesrepublik und der DDR die 2+4-Verhandlungen im Ost-Berliner Schloss Schönhausen, deren Abschluss im September 1990 den Weg zur Einheit in Freiheit freimacht.
Infos für Besucher
Anschrift: Mauermuseum - Haus am Ceckpoint Charlie, Friedrichstrasse 43-45, 10969 Berlin
Öffnungszeiten: an allen Tagen des Jahres von 10 bis 20 Uhr.
Eintritt: Erwachsene 18,50 Euro, Studenten 14,50 Euro, Schüler im Alter von 7-18 Jahren 12,50 sowie Sozialticket und Schwerbehinderte 12,50 Euro, Audioguide 5 Euro.
Zahlung: Vor Ort ist keine Bargeldzahlung möglich, nur Kreditkarte oder Online-Ticket auf der Webseite www.mauermuseum.de vorab erwerben. pwr
Erst seit 13. August 2000 steht wieder ein weißes, hölzernes Kontrollhäuschen hier - eine Kopie, denn das Original befindet sich im Alliiertenmuseum in Dahlem. Schon zwei Jahre zuvor wird wieder ein Schild mit dem Schriftzug „You are leaving the American Sektor“ angebracht. Ein Original hängt in einem großen Gebäude direkt am Checkpoint Charlie, dem Mauer-Museum „Haus am Checkpoint Charlie“.
Zwar hat die Stiftung Berliner Mauer vom Senat der Stadt den Auftrag, eine Bildungs- und Erinnerungsstätte an diesem historischen Ort zu errichten - der Zeitpunkt der Eröffnung ist indes unbekannt. Aber schon seit Jahrzehnten ist es das private Mauermuseum, das hier die Erinnerung am weltbekannten Kontrollpunkt zwischen den Hälften der geteilten Stadt wachhält. Da kann man nicht nur in einem Shop allerlei Mauer-Segmente mit „Echtheitszertifikat“ kaufen. Auch sonst ist die Erleichterung greifbar, dass es diese unnatürliche Grenze nicht mehr gibt. So steht vor dem Eingang ein Segment Mauer („Die erste Mauer der Weltgeschichte, die in Serienfabrikation um eine Stadt gebaut wurde“) und ein Original-Grenzpfahl des „besten Grenzsicherungssystems der Welt“; ein Zitat von Armeegeneral Karl-Heinz Hoffmann, in Mannheim geboren und hier bis 1933 als Kommunist aktiv, von 1960 bis zu seinem Tod 1985 DDR-Verteidigungsminister.
Perfides System sperrt eigene Bürger ein
Erfinder und bis zu seinem Tod 2004 auch Leiter des Museums ist der 1914 geborene Publizist Rainer Hildebrandt – Sohn des Kunsthistorikers Hans Hildebrandt und der jüdischen Malerin Lily Hildebrandt sowie selbst von den Nazis verfolgt. „Nur über das Unrecht zu schreiben war mitr zu wenig“, begründet der Publizist, warum er gleich nach dem Bau der Mauer (13. August 1961) eine Ausstellung dazu in einer zweieinhalb Zimmer großen Wohnung gründet, aus der am 14. Juni 1963 dann das größere Museum wird. „So nahe wie möglich am Unrecht sein, dort entfaltet sich die menschliche Größe am stärksten,so der Gründer zur Wahl des Standorts, der viele Jahre auch Anlaufstelle für Fluchthelfer ist. Dreimal versucht die Stasi daher, Hildebrand zu entführen - vergeblich. Seit seinem Tod führt seine Witwe Alexandra das nun 2000 Quadratmeter umfassende Museum und die nach ihm benannte Stiftung.
Wer das Haus betritt, wird in die Zeit des Kalten Krieges zurückversetzt. Lange Texttafeln, Wände voller vergilbter Zeitungsausschnitte und Dokumente mögen nicht modernsten museumspädagogischen Erkenntnissen entsprechen - aber sie machen das Klima dieser Zeit, die Stimmung, den Druck, die Ängste gut nachvollziehbar, verdeutlichen neben den politischen Konflikten die menschlichen Tragödien.
Das Original der vom britischen Premier Churchill bei der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 benutzten Karte aus dem „National Geographic Magazine“ zeigt, wie die Siegermächte damals die Besatzungs- und damit Einflusszonen aufgeteilt haben. Aber kaum ist Hitler besiegt, wird die Allianz gegen ihn brüchig - und die Ausstellung belegt, wie rasant das geht, wie schnell aus den Grenzen der Besatzungszonen ein Eiserner Vorhang wird.
Die Sowjetunion zieht ihn schon am 24. Juni 1948, als sie die Berliner Blockade beginnt. Aber die Westmächte halten ihr stand, 322 Tage lang wird die geteilte Stadt aus der Luft versorgt. Die Uniform von Jack O. Bennet, der erste Pilot der Luftbrücke und dafür insgesamt 40.000 Stunden am Himmel, sowie eine nachgestellte Rollfeld-Szene erinnert eindrücklich an diesen Kampf.
Der Volksaufstand am 16./17. Juni 1953 nicht nur in Berlin, sondern in über 700 Orten der DDR, blutig von sowjetischen Truppen niedergeschlagen, wird thematisiert, und besonders natürlich der Bau der Mauer 1961. Mauer, Stacheldraht, Hundelaufanlagen sowie die zwangsweise Umsiedlung aller Menschen, die zu nahe an der hermetisch abgeriegelten Grenze wohnen - da reicht dem System ja nicht, um die eigenen Bürger einzusperren. Es gibt den (mehrfach erneuerten) Schießbefehl, dazu Erfindungen wie die Selbstschussanlage SM 70, die 100 scharfkantige, würfelförmige Metallteile aus ihrem Trichter schleudert und für schwerste Verletzungen sorgt, wenn jemand von Deutschland nach Deutschland will.
Mindestens 140 Menschen werden zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer getötet. An sie erinnert das Museum, besonders an den damals 18-jährigen Bauarbeiter Peter Fechter, der am 18. August 1962 an der Berliner Mauer von DDR-Grenzern niedergeschossen wird und - wenige Zentimeter vor der rettenden Grenze entfernt - verblutend liegenbleibt. Westberliner Polizisten werfen ihm noch Verbandspäckchen zu, helfen können sie ihm nicht. „Er wollte nur in die Freiheit“ heißt es an dem Denkmal, das für ihn gesetzt worden ist.
Fluchthilfe und der Jubel am Ende
Aber nicht nur das brutale, das perfide System der Grenze ist Thema des Museums - auch Wagemut, Kreativität und Fantasie der Menschen, die es doch schaffen, sie zu überwinden. Mit einem Heißluftballon etwa, per Tunnel, per Mini-U-Boot, versteckt in Autos - der Drang der Menschen, in die Freiheit zu kommen, ist manchmal ebenso groß wie ihr Einfallsreichtum., und mehr als 5000 Menschen gelingt zwischen 1961 und 1989 die Flucht über die Mauer. Aber deutlich wird auch: Nicht immer war Fluchthilfe Idealismus, manchmal auch ein bitteres Geschäft.
Aber dann das Ende: „Die Mauer ist weg“, jubelt die B.Z. in ihrer Schlagzeile vom 10. November 1989: „Berlin ist wieder Berlin. Jeder darf sofort durch. Deutschland weint vor Freude!“ Lange hat diese Freude indes nicht angehalten, denkt man, wenn man vor dieser Zeitungsseite steht.
Das Ende der Ausstellung ist sie auch nicht. Im oberen Stockwerk wird – mit 14 Leihgaben aus dem Familienbesitz Ghandhis, aus der CSSR die Schreibmaschine der „Charta 77“ – die erste Ausstellung des internationalen gewaltfreien Kampfes für Menschenrechte gezeigt. Das reicht von Lech Walesas Gewerkschaftsgründung in Polen bis zu Leipziger Montagsdemonstrationen. Zu sehen ist etwa die 50 Meter lange weiß-blau-rote Fahne, hinter der sich die 1991 Bürger Moskaus scharten und den Putsch der Altkommunisten zum Scheitern brachten.
Folter und Qualen des nordkoreanischen Regimes, Gewalt in Belarus, internationale Friedenseinsätze der Nato, die Rolle der Weltreligionen - in mehreren Räumen setzt das Museum, optisch wie inhaltlich, moderne Akzente. Aber auch beklemmend-erschreckende: Ein recht neuer Raum ist dem Ukrainekrieg gewidmet, mit Uniformteilen, Feldbecher und -löffel, Resten ukrainischer Patronen und abgeschossener russischer Panzer. Es sind Symbole dafür, dass der Kampf um die Freiheit mit dem Fall der Mauer nicht beendet ist.
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