Will er nur seinem Schwiegersohn einen Gefallen tun? So genau weiß man es nicht. Am 6. April 1275 jedenfalls befiehlt Rudolf von Habsburg im Kloster Weißenburg, wo er gerade residiert, den Schreiber zu sich. „Wir, Rudolf, von Gottes Gnaden Römischer König, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches“ diktiert er dann. Er habe sich „allerhöchst bewogen gefunden, die Bitten Unserer lieben Getreuen, der Bürger von Neustadt (. . . ) gnädiglich aufzunehmen“, wonach er ihnen nun „aus Allerhöchster Königlicher Machtvollkommenheit alle Rechte und Freiheiten, deren die Stadt Speyer sich erfreuet, frei einräumen …“ werde.
Neustadt erhält vor 750 Jahren das Stadtrecht
Die Urkunde, mit großem königlichem Siegel und Monogramm, wird im Stadtarchiv Neustadt aufbewahrt und ist Anlass für ein ganzes Festjahr. Schließlich hat der von 1273 bis 1291 regierende erste römisch-deutsche König aus dem Geschlecht der Habsburger der Stadt an der Weinstraße damit vor 750 Jahren das Stadtrecht zuerkannt. Seine Tochter Mathilde ist die Frau des eigentlich dort regierenden Ludwig II., des Pfalzgrafen bei Rhein.
Der hatte Neustadt schon viel früher privilegiert. Die damit quasi erneute Verleihung sei „schon eine Kuriosität“, sagt Constantin Beck-Burak, Fachbereichsleiter Bildung, Kultur und Sport von Neustadt. Der König versichert nämlich gleichzeitig, dass er mit seinem Rechtsakt die Rechte des Pfalzgrafen – der ihn als einer der Kurfürsten gewählt hat – nicht antasten wird. „Doppelte Stadtrechte sind einmalig im Reich“, so Beck-Burak, wobei es eine richtige Erklärung dafür nicht gibt.
Ohnehin ist es nicht die einzige Kuriosität. Zwischenzeitlich wird den Neustadtern ihr Stadtrecht nämlich, was als sehr unüblich gilt, entzogen. Im Mai 1525, als im Zuge der Bauernkriege die Aufständischen vor den Toren lagern, werden sie von den Neustadtern eingelassen – was den Pfalzgrafen so erzürnt, dass er ihnen die pfalzgräflichen Stadtrechtsprivilegien aberkennt und sie erst 1543 wieder bewilligt.
Neustadt, eine Gründung auf „wilder Wurzel“
Unabhängig von den Stadtrechten – Neustadt ist ohnehin viel, viel älter. „Das genaue Jahr weiß man nicht, aber es war eine Gründung auf wilder Wurzel“, sprich auf unbebautem Land, so der Neustadter Denkmalpfleger Stefan Ulrich. Zumindest gibt es Urkunden den Klosters Weißenburg, die den heute zu Neustadt gehörenden Ortsteil Winzlingen im Jahr 774 belegen. Auch umliegende Dörfer werden auf das achte Jahrhundert, die Winziger Burg und die Kestenburg (Vorläufer vom Hambacher Schloss) um 1100 datiert.
„Wie so oft in unserer Region“, so Ulrich, sind es dann die zu jener Zeit von Heidelberg aus herrschenden Pfalzgrafen, die ihr Territorium erweitern wollen. Sie nutzen die günstige topografische Lage, lassen die Feuchtwiesen am Speyerbach trockenlegen und schaffen sich hier einen Stützpunkt: „Civitas Nova“, also die neue Stadt. Als solche ist die Siedlung 1246 in einer Urkunde für das Kloster Lambrecht, die Grundbesitz bescheinigt, erstmals erwähnt.
1254 scheint die Siedlung schon große Bedeutung zu haben. Immerhin wird sie als Mitglied des Rheinischen Städtebunds aufgeführt – unter anderem mit Worms, Speyer, Mainz, Köln, Frankfurt, Straßburg, Heidelberg, Basel und Freiburg. Hier residiert ein Vertreter des Pfalzgrafen und ab 1256 gibt es einen eigenen Stadtschultheiß.
Reich scheint die Stadt auch zu sein: 1259 bis 1261 übersteht sie eine zweieinhalbjährige Belagerung. Der Bischof von Worms hat seine Truppen geschickt, weil zuvor der Pfalzgraf das Dorf Neckarau (heute Mannheimer Stadtteil) überfallen hat; eigentlich vom Kaiser dem Bischof überlassen. 1284 verleibt die Kurpfalz sich das Dorf endgültig ein.
Residenz und Kirchenbau: Ein „Doppelwumms“ für Neustadt
Ein Jahr später ist das erste Siegel der Stadt Neustadt belegt. Sie dient als kurpfälzisches Oberamt. Nach dem Hausvertrag von Pavia, in dem das Geschlecht der Wittelsbacher sich am 4. August 1329 auf die Teilung in die ältere Linie Pfalz und die jüngere Linie Bayern einigt, kommt Neustadt eine besondere Bedeutung zu. „Pfalzgraf Rudolph II. zieht sich von Heidelberg hierher zurück, dadurch bekommt Neustadt vorübergehend Hauptstadtfunktion“, hebt Ulrich hervor: von 1330 bis 1356.
Pfalzgraf Rudolf II. (1306-1353) verfügt in seinem Testament die Stiftung einer Kirche samt Personal (Kollegiatstift) als Grabstätte, was sein Nachfolger Ruprecht I. (1309-1390) 1356 umsetzt. So entsteht die Stiftskirche, für die 1368 der Grundstein gelegt, 1383 der Chor geweiht wird. Der spätgotische Bau mit den 1489 vollendeten mächtigen Doppeltürme, heute das Wahrzeichen der Stadt, prägt den Marktplatz und überragt die gesamte Altstadt.
Tipps für Besucher
Jubiläumsausstellung: Stadtmuseum Villa Böhm, Maximilianstraße 25/Villenstraße 16 b, 67433 Neustadt/W., 6. April bis 7. Mai und nochmal 1. bis 29. Oktober, Mi, Do, Fr: 16-18 Uhr Sa und So: 11-13 Uhr und 15-18 Uhr, Eintritt frei.
Jubiläumsmatinee: Sonntag, 6. April, 11 Uhr, Villa Böhm
Baugeschichtlicher Rundgang: mit Stefan Ulrich am 16. April, 17.30 Uhr, 14. Mai, 18 Uhr, 17. September, 17.30 Uhr und 15. Oktober, 17 Uhr, jeweils ab Marktplatzbrunnen.
Rheinland-Pfalz-Tag: 23. bis 25. Mai, Landesfest mit freiem Eintritt zu allen Veranstaltungen.
Mittelaltermarkt: 13. bis 15. Juni, Marktplatz.
Lange Nacht des Stadtmuseums: 13. September, 18 Uhr, Villa Böhm.
Anfahrt: Von Mannheim Hbf mit der Bahn in gut 30 Minuten, per Auto über A650 und B271. pwr
Erst Residenz, dann Kirchenbau – das habe „wie ein Doppelwumms gewirkt, weil es für enorm viel Baugeschehen gesorgt hat“, verdeutlicht Denkmalpfleger Ulrich im heutigen Sprachgebrauch: Handwerker siedeln sich an, weil sie wissen, dass ein Kirchenbau für Jahrzehnte viel Arbeit bietet. In jener Zeit entsteht Neustadt als, wie Ulrich formuliert, „planmäßige Gründung“ mit Hauptstraße, Querstraßen und vier Vierteln: Judenviertel, Frauenviertel (mit kirchlichen Besitzungen, nach dem Patrozinium der Siftskirche benannt), Lauerviertel (Gerberviertel) und Kesselringviertel (nach einer einflussreichen Familie benannt).
Das Besondere an Neustadt: Rund um den geradezu malerischen Marktplatz kann man noch heute zahlreiche sehr gut erhaltene Häuser aus dem Spätmittelalter sehen. Besonders stolz zeigt Ulrich auf das Gotische Haus, mit typischen Spitzbogenfenstern und einem Stufengiebel bekrönt. Untersuchungen haben ergeben, dass es um 1276/1277 entstanden ist. „Das älteste Haus Neustadts und eines der ältesten steinernen Bürgerhäuser überhaupt in Rheinland-Pfalz“, wie der Denkmalpfleger hervorhebt – auch wenn es sehr unscheinbar aussieht.
„Wir sind die Fachwerkhauptstadt“
Viel prächtiger ist daneben das Ost- und Rückgebäude, das Laubenganggebäude sowie der Treppenturm einer früheren Herberge („Kuby‘scher Hof“ oder „Steinhäuser Hof“), heute Sitz vom Standesamt. In dem schönen historischen Komplex plant Ulrich ab 1. Juni eine Ausstellung zu Bauen und Wohnen im Mittelalter, wo eine typische mittelalterliche Wohn- und Gaststubenatmosphäre nachgestellt und die damalige Bauweise mit Modellen im Maßstab 1:7 illustriert wird. Was zum Jubiläum nur vorübergehend zu sehen sein wird, soll in eine Dauerausstellung münden.
Schließlich soll Neustadt nach Vorstellung von Ulrich noch mehr mit einem besonderen Pfund locken. „Wir sind die Fachwerkhauptstadt“, so der promovierte Bauforscher, sei doch der vergleichsweise hohe Bestand an bestens erhaltenen mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Wohngebäuden ein Alleinstellungsmerkmal – mehr noch als der Wein oder die (durch das Hambacher Fest) Rolle als Wiege der deutschen Demokratie. „Mindestens zehn“ Häuser gingen auf das 14. Jahrhundert zurück, und von insgesamt 45 im Kern mittelalterlichen Häusern in Rheinland-Pfalz stünden allein 25 in Neustadt. Häuser aus der Zeit vor 1700 gebe es in der ganzen Pfalz vielleicht noch 800, davon allein 120 in Neustadt.
Dendrochronologische Untersuchungen, also die Bestimmung des Alters der Hölzer, erleichtern heute die genaue Festlegung der Entstehungszeit der Bauten. Schräge Streben und waagrechte Riegel, keine Verzierungen, weiße verputzte Wände – so fängt der Fachwerkbau an. Die hohen, steinernen Erdgeschosse dienen als Lager- oder Geschäftsräume, auch weil von unten Feuchtigkeit droht. Gewohnt wird im ersten Obergeschoss. Erst später kommen aufwendige Verzierungen bei Häusern der bürgerlichen Repräsentanten, Rathäusern oder Zunfthäusern dazu. Diese Entwicklung lässt sich bei einem Rundgang mit Ulrich gut nachvollziehen.
Besonders lohnenswert ist der Gang vom Marktplatz aus durch die schmale Metzgergasse. Hier lässt sich ein Haus in die Jahre 1382/84 datieren. Lange galt es eines der ältesten datierten Fachwerkbauten im Bundesland, bis in Neustadt selbst ältere Häuser untersucht wurden. Dabei hat sich die Konstruktion des 14. Jahrhunderts vom Erdgeschoss bis zum Dach durchgängig erhalten. Spätere Eingriffe betreffen in erster Linie eine im frühen 17. Jahrhundert zur Straße vorgesetzte Raumreihe. Zwischen den Untersichten der auskragenden Deckenbalken erkennt man barocke bemalte Putzfelder.
Bauelemente aus Gotik und Renaissance sind am „Casi“ vereint, wie die Neustadter ihr Collegium Casimiri (Casimirianum) nennen. Pfalzgraf Johann Casimir hat es 1578 als calvinistisch-theologische Hochschule und Ausweichquartier für die – damals lutherische – Universität Heidelberg gegründet.
Neustadt hat sich „ immer geschickt aus allen Kriegen herausgehalten“
Verschiedene Baustile vereint auch das alte Rathaus der Stadt, ebenso in der Ära von Johann Casimir 1589 erbaut. „Das älteste Rathaus der Pfalz, da stecken drei Häuser drin“, zeigt Ulrich mehrfache Erweiterungen und Umbauten des bis 1838 genutzten Gebäudekomplexes. Seither dient ein prunkvolleres Bauwerk der Stadtverwaltung – das 1729 vom Jesuitenorden als eines der Zentren der Gegenreformation erbaute Kolleg am Marktplatz. Gleich gegenüber steht das um 1580 errichtete Scheffelhaus.
Auf der Südseite vom Marktplatz findet sich im Innenhof der Gaststätte „Schwarzer Löwe“ ein prachtvolles, herrlich renoviertes Fachwerkhaus von 1424, ergänzt um einen bunt bemalten Renaissance-Treppenturm. Laut Ulrich ist das typisch: „Anfangs waren die Fachwerkhäuser weiß und fertig, ab der Renaissance kam das Zierrat am Bau, kamen die farbigen Bemalungen.“ Und dafür kann er bei einem Spaziergang zu liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern und idyllischen Innenhöfen noch viele Beispiele zeigen, etwa an einem Haus von 1455, wo gerade der älteste offene Laubengang in der Pfalz wieder hergestellt wird, oder in der Hintergasse (Handwerkergasse) die vermutlich älteste Weinstube der Stadt „Zur Herberge“, seit dem Mittelalter und bis heute Einkehrstätte wandernder Handwerkergesellen.
Erhalten sind all diese historischen Bauten, „weil sich Neustadt immer geschickt aus allen Kriegen herausgehalten hat“, sagt Constantin Beck-Burak. Selbst der schreckliche General Melac, der im französischen Erbfolgekrieg 1689 brutal brandschatzend durch die gesamte Kurpfalz zieht, verschont Neustadt. Der Legende nach liegt das an Kunigunde Barbara Kirchner. Aus Liebe zu ihr soll der französische Kriegskommissar Johann Peter de Werth Neustadt vor der Zerstörung bewahrt haben. „Es dürfte eher strategische Gründe gehabt haben“, sagt Beck-Burak. Ein Denkmal haben die Neustadter der Tochter des Heidelberger Hofgerichtsrats Theobald Paul Kirchner dennoch gesetzt.
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