Kennen Sie das? Wenn man gar nicht aufhören will mit einem Buch? Ich meine: aufhören zu lesen. Aber auch den Wunsch, dass das Buch nicht aufhört, dass es nicht zu Ende geht … weil es so faszinierend ist, so packend, so anrührend. Das passiert mir nicht allzu oft, aber wenn, ist das immer ein Qualitätsmerkmal. Und ein Dilemma. Meist lese ich ein Stündchen vor dem Einschlafen. Ein gutes Zeichen, wenn es mich abends geradezu ins Bett zieht. Ein noch besseres, wenn ich auch tagsüber mal zum Buch greife, obwohl da viel Wichtigeres zu tun wäre. Das beste Zeichen jedoch: Wenn ich immer und überall weiterlesen möchte. Mich Figuren, Stimmung und Konflikte nicht mehr loslassen, ich von ihnen träume, mit ihnen einkaufe, koche, Auto fahre. Wenn ich in dieser Romanwelt stecke, mich gedanklich auf nichts anderes einlassen möchte, sogar Gesprächen aus dem Weg gehe. Dann zwinge ich mich manchmal dazu, nicht gleich weiterzulesen, die letzten Seiten aufzusparen, noch ein wenig auszuharren. Damit das gute Buch nicht so schnell ausgelesen ist. Das ist wie Warten auf die Aroma-Entfaltung eines Rotweines.
Bei einem netten Abendessen, einem Konzert oder einer Reise mag es einem ähnlich gehen. Wenn eben nur nicht so bald Schluss ist! Das Ende hinauszögern … beim Lesen hat man das ja glücklicherweise selbst in der Hand. Wann unterbreche ich, wann lese ich weiter? Opfere ich noch ein paar Stunden Schlaf, verschiebe ich ein wichtiges Vorhaben? Wie gestalte ich meinen Leserhythmus? Obwohl: Mit dem Rhythmus ist das ja so eine Sache ... Hat doch ein gut geschriebener Roman auch und vor allem einen Rhythmus. Ist komponiert, hat Bogen, Steigerung, Verdichtung, entwickelt einen Sog, dem man sich weder entziehen kann noch mag. Also handle ich mit dem Hinauszögern kontraproduktiv, bringe mich um das Eigentliche. Was tun? Jetzt nicht schlafen, nicht einkaufen gehen, nicht Kuchen backen ... sondern einfach zu Ende lesen! Susanne Kaulich
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