Die Aussichten sind rosig. Zumindest auf dem Papier. In knapp zehn Monaten wird die Handball-Europameisterschaft in Deutschland ausgetragen. Das Turnier ist eine große Chance, diesen Sport noch populärer zu machen. Welch Begeisterung die Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) entfachen kann, zeigte gerade erst die WM im Januar. Platz fünf wurde gefeiert – und entsprach dem Leistungsniveau dieses Teams, das im nächsten Jahr allerdings um Medaillen spielen soll. Oder besser gesagt: Um Medaillen spielen muss. Denn genau das ist das selbst gesteckte Ziel.
Das Problem: Die EM 2024 könnte für diese im Aufbau befindliche deutsche Mannschaft ein wenig zu früh kommen. Sehr deutlich wurde das in den beiden Länderspielen gegen Dänemark. Der dreifache Weltmeister ist momentan zwar zweifelsohne das Nonplusultra im Welt-Handball. Und doch hatten die zwei deutlichen Niederlagen etwas von einer schockierenden Begegnung mit der Realität. Denn die Skandinavier waren zweimal nicht nur ein bisschen, sondern sehr viel besser. Obwohl sie ohne ihre Stars Mikkel Hansen, Niklas Landin, Rasmus Lauge und Magnus Saugstrup spielten. Das sollte eine Warnung sein, weil sich ein Muster erkennen lässt.
Bei der ansonsten guten WM unterlagen die Deutschen ebenfalls deutlich gegen Olympiasieger Frankreich, im Oktober hatte die DHB-Auswahl gegen Europameister Schweden keine Chance. Und auch gegen den WM-Dritten Spanien setzte es im Herbst eine – wenn auch knappe – Niederlage. Dänemark, Frankreich, Schweden und Spanien. Es ist kein Zufall, dass genau dieses Quartett bei den Weltmeisterschaften 2021 und 2023 sowie bei der EM 2022 im Halbfinale stand. Diese vier Mannschaften bilden momentan die Weltspitze. Und es fehlt gerade die Fantasie, wie die DHB-Auswahl in diese Phalanx zeitnah eindringen will.
Man muss an Wiede denken
Gewiss: Mit einem Heimvorteil ist immer mehr möglich. Eine funktionierende Taktik kann individuelle Schwächen zudem übertünchen. Mal mehr, mal weniger. Aber eben nicht immer, erst recht nicht jeden dritten Tag bei einem Turnier. Und wenn wir ehrlich sind: Das Losglück half den Deutschen bei der WM in diesem Jahr ein wenig, um Fünfter zu werden – was weder zu beweisen ist noch die Leistung schmälern soll. Aber dieser Fakt gehört ebenso zur Einordnung des Turniers wie die Tatsache, dass es mit Juri Knorr einen einzigen Rückraumspieler von internationalem Format im Kader gibt. Das ist alarmierend. Und ein Armutszeugnis für die größte Handball-Nation der Welt.
Auf die Schnelle lässt sich das nicht gravierend ändern. Talentförderung braucht Zeit. Aber Zeit hat der deutsche Handball nicht. Bundestrainer Alfred Gislason steht deshalb vor einer entscheidenden Frage: Setzt er weiter auf Entwicklung? Oder holt der Isländer die Routiniers Fabian Wiede und Hendrik Pekeler zurück? Angesichts der besorgniserregenden Leistungen auf der halbrechten Position wäre es fahrlässig, auf Wiede zu verzichten. Auch wenn der Berliner zuletzt mehrfach kurzfristig ein Turnier absagte und sich damit den Unmut des DHB zuzog. Und bei Pekeler weiß man ohnehin, was man bekommt. Kurzum: Das Duo wäre eine Soforthilfe, es erhöht die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg. Und genau daran wird Gislason im Januar 2024 gemessen.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Deutsche Handballer weit weg von Weltspitze
Die deutschen Handballer sind in dieser Verfassung kein Medaillenkandidat bei der Heim-EM. Man sollte an die Rückkehr von Routiniers denken, meint Marc Stevermüer.