Was war denn das? Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat am Samstagabend im riesigen Groupama-Stadion in Lyon eine kleine Wiedergeburt erlebt. Ohne den 2:0-Sieg bei Vizeweltmeister Frankreich zu hoch ins Regal stellen zu wollen – es war immer noch ein Testspiel und kein K.o.-Duell in der Endphase eines wichtigen Turniers. Aber: Eine DFB-Elf, die so strukturiert, so hungrig, mit dem richtigen Personal und der passenden Taktik aufgetreten ist, gab es zum letzten Mal in der Phase vor der EM 2016 unter Bundestrainer Joachim Löw zu bestaunen.
Der Abend in der Metropole im Südosten Frankreichs brachte vor allem zwei große Gewinner hervor: Löws Nachnachfolger Julian Nagelsmann, dessen radikaler Umbau zum Start ins EM-Jahr auf fast allen Ebenen funktionierte. Der Bundestrainer hat die leistungshemmenden Versagensängste der jüngeren Vergangenheit in eine lange nicht mehr gesehene fußballerische Leichtigkeit verwandelt. Nagelsmanns anfangs leicht dämlich klingender neuer Slogan „Wir kicken“ wurde mit Leben gefüllt.
Der zweite Triumphator heißt Toni Kroos, der bei seinem Comeback nach fast drei Jahren gleich sein bestes Länderspiel seit der anfangs erwähnten späten Hochphase unter Jogi Löw ablieferte. In dieser Form und mit dieser Motivation hebt der hochdekorierte Weltmeister von 2014 die deutsche Auswahl als Taktgeber und Stabilisator im Mittelfeld auf ein komplett anderes Niveau.
Überflüssige Vertragsdebatte
Von einer nachhaltigen Wende zu sprechen, käme jedoch noch zu früh. Dafür muss das DFB-Team vor allem beim Turnier im Sommer zeigen, dass Lyon keine Eintagsfliege war. Aber bei einem weiteren überzeugenden Auftritt am Dienstag in Frankfurt gegen die Niederlande wäre zumindest schon einmal die Stimmung in der Fußball-Nation vor der Heim-EM völlig gedreht. Und das wäre mehr, als selbst die kühnsten Optimisten nach der Tristesse, der Resignation und dem Fatalismus in den vergangenen Jahren erwartet hätten.
Was es jetzt allerdings nicht braucht, ist eine intensive Debatte um eine vorzeitige Vertragsverlängerung von Nagelsmann, der bisher nur als Projektarbeiter für die Europameisterschaft angestellt ist. Sicher, das Frankreich-Spiel war ein Hoffnungsschimmer. Ein Beleg, das Deutschland mit dem richtigen Konzept allen Abgesängen zum Trotz natürlich die Qualität besitzt, beim Turnier im eigenen Land sehr weit zu kommen.
Aber man sollte die EM eben erst einmal spielen und schauen, wie sich die Mannschaft unter Druck präsentiert. Wie Nagelsmann in Alles-oder-Nichts-Spielen coacht. Genau in diesen beiden Bereichen lagen bei den drei zurückliegenden Großveranstaltungen die Probleme, die zum frühen Scheitern geführt haben.
Das Risiko, das Nagelsmann so lange nicht warten will und in der Zwischenzeit bei einem europäischen Topverein zusagt, muss der DFB eingehen. Wer die Karriere-Ambitionen des jungen Trainers kennt, der sollte im Hintergrund sicherheitshalber sowieso auch an einem Plan B für die Zeit nach der EM arbeiten.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Deutschland gewinnt 2:0 in Frankreich: Eine kleine Wiedergeburt
Der in seiner Art und Weise imponierende 2:0-Sieg der DFB-Elf bei Vizeweltmeister Frankreich dreht die Stimmung zum Start ins Jahr der Heim-EM. Ein Abend, nach dem es vor allem zwei große Gewinner gibt