Die Vorstellung, dass das Immunsystem ein Muskel ist, der trainiert werden muss, um abwehrbereit zu sein, ist so nicht richtig. Weit besser ist der Vergleich mit einem lernenden System, das eine Bilderdatenbank zur Wiedererkennung nutzt und besser wird mit jedem Bild, das es speichert. Denn die Bilder sind das Fundament des körpereigenen Abwehrsystems zum Bau der Kampftruppen, die den Viren und Bakterien zu Leibe rücken. Es ist übrigens einer der Gründe, warum Impfen Sinn macht. In unserm Bilderdatenbankvergleich sorgt die Impfung für neue Bilder, mit denen der Körper auf einen Angriff schneller und angemessen reagieren kann. Und das heißt im Umkehrschluss, dass der Gedanke, dass Hygienemaßnahmen mittel- bis langfristig, gerade auf das Immunsystem von Kindern, nachteilige Wirkung haben kann, nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Denn Abstand halten, das Desinfizieren im privaten und öffentlichen Raum sowie das Masketragen sorgen dafür, dass die Bilderdatenbank des Immunsystems weniger Bilder zur Verfügung gestellt bekommt und in der Folge kein Plan für den Bau der körpereigenen Abwehr besitzt.
Wichtig: Hygiene ist für gesundes Leben von zentraler Bedeutung. Sie hat dafür gesorgt, dass die Lebenserwartung steigt. Doch es ist wie immer in der Medizin: Die Dosis macht das Gift. Übertriebene Hygiene scheint gerade auf das Immunsystem von Kindern destabilisierend zu wirken. Zumindest scheint es unstrittig zu sein, dass sie ein Teil der Erklärung für die zunehmende Allergieanfälligkeit von Kindern ist. Der Epidemiologe David Strachan zeigte bereits in den1990ern mit einer großangelegten Studie, dass es einen Zusammenhang zwischen zunehmender Allergieanfälligkeit und ständig verbesserter Hygienebedingungen gibt. Das alles heißt jetzt keinesfalls, dass die Hygiene verabschiedet werden sollte. Im Gegenteil: Hygiene ist einer der Faktoren für Gesundheit. Aber es gilt, Maß zu halten. Ein natürliches, krasses Beispiel: Ein Kind, das in einer komplett keimfreien Umgebung groß wird, also sozial isoliert und fast ohne jeden Kontakt zu Keimen, ist in unserer Welt, mit ihren Milliarden an Keimen, schlechterdings überlebensfähig. Denn das Immunsystem dieses Kindes verfügt über keinerlei Bilder von Keimen und ist ihnen schutzlos ausgeliefert. Ein bezeichnendes Beispiel findet sich in Amerika. Mit dem Eintreffen der Europäer verbreiteten sich unter der indigenen Bevölkerung europäische Keime, für die deren körpereigenes Immunsystem keine Bilder hatten, um Abwehrtruppen aufzubauen. Die Folge war der Tod von Millionen Menschen. Es gilt: Je mehr Bilder das Immunsystem hat, desto besser ist es für Eventualitäten gewappnet. Und vor diesem Hintergrund können Hygienemaßnahmen kritisch gesehen werden. Dabei geht es nicht nur um die Maske, aber eben auch. Kurz- und mittelfristig und gerade in Pandemiezeiten haben Hygienemaßnahmen wie Abstand halten, Maske tragen und Desinfizieren ohne Zweifel einen positiven Effekt. Längerfristig können sie sich auch nachteilig auswirken. Es muss also auch über die Exitstrategie nachgedacht werden.
Es ist wie immer im Leben: Die einfache Antwort, den (Alles-gut- machenden-) Leitfaden gibt es nicht. Deswegen bedarf es der ständigen Bereitschaft, immer wieder neu nachzudenken und vor allem die Fähigkeit, sich selbst infrage zu stellen. In den Augen des Philosophen Karl R. Popper das Wichtigste überhaupt. Gesellschaftlicher Fortschritt funktioniert fast ausschließlich über Falsifikation. Anders gesagt: Lernen geht über Fehler.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Lernen geht über Fehler
Stefan Kern über eine notwendige Exitstrategie bei Hygienemaßnahmen