Kommentar Trotz #MeToo ist Sexismus immer noch Alltag

Sexuelle Belästigung ist durch die #MeToo-Bewegung nicht verschwunden, aber sie wird immer öfter aufgedeckt. Das ist ein Erfolg, meint Birgitta Stauber

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Birgitta Stauber
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Zwölf Maßkrüge vor dem wogenden Busen. Auf dem Oktoberfest 2022 ist dies eine ebenso alltägliche wie extreme Leistung. Das Bild von der Wiesn-Kellnerin schlägt im privaten Whatsapp-Chat auf - garniert mit der Zeile: „Kann eine Frau gleichzeitig zwölf Männer befriedigen? Ja, sie kann.“ Der Urheber garniert seinen Post mit Emojis, denen vor Lachen die Tränen herunterrollen.

Ein Gruppenmitglied kann gar nicht lachen. Es empört sich: Derartiger Sexismus gehört nicht in den privaten Chat. Eine heftige Debatte über sexuelle Belästigung bricht aus; am Ende löst sich die Gruppe auf.

Was das Beispiel zeigt: Da mag ein Filmmogul namens Harvey Weinstein wegen unzähliger Vergewaltigungen und schwerer Belästigungen im Gefängnis sitzen, da mag der Ring minderjähriger Mädchen, den der Investmentbanker Jeffrey Epstein zur sexuellen Ausbeutung geschaffen hatte, Prinz Andrew zur Persona non grata gemacht haben, da mag auch der deutsche Regisseur Dieter Wedel #MeToo nach Deutschland geholt haben: Billige Witze, die Frauen zu reinen Sexobjekten degradieren - was die Wegbereitung für schweren Missbrauch ist -, gehören immer noch zum Alltag.

Aber Frauen sind immer weniger gewillt, dies zu ertragen. Und genau deshalb reißen die Skandale nicht ab, wie etwa der Fall des ehemaligen „Bild“-Chefs Julian Reichelt zeigt. Der verlor vor einem Jahr seinen Job nach einem Compliance-Verfahren, bei dem ihm Machtmissbrauch und Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen im Umgang mit jungen Mitarbeiterinnen vorgeworfen wurden.

Klar ist: Seit #MeToo ist es gefährlicher geworden, seine Position auszunutzen. Der Fall Weinstein zeigt, dass eine unklare Beweislage (wie kann auch die Beweislage klar sein, wenn es um Machtmissbrauch, sexuelle Nötigung oder gar Vergewaltigung geht?) nicht vor einer Verurteilung schützt - und erst recht nicht, wie der Fall Julian Reichelt zeigt, vor dem Verlust der beruflichen und privaten Reputation.

Frauen sagen nicht immer, aber immer öfter, was ihnen passiert. Nicht nur, wenn es zum Äußersten, der Vergewaltigung, kommt. Sie sagen, was sie im Alltag stört. Dass sie nicht einfach im Büro eine Nackenmassage wollen. Dass sie auch nicht einfach angefasst werden möchten. Dass sie es hassen, wenn sie beim Verlassen des Chefbüros den Blick an ihrem Hintern spüren.

Zurück zu den Witzen und Anzüglichkeiten: Natürlich werden sie gern im Beisein von Frauen erzählt, allein um die Wirkung zu testen. Erzeugen sie Verunsicherung? Oder gar Scham? Werden Adressatinnen rot? Trauen sie sich, sich zu wehren, und wenn nicht: Kann man(n) weitergehen? Sexismus den Kampf anzusagen, ist nicht prüde, sondern Vorbeugung.

Apropos Prüderie: Dieser Titel wird Frauen gerne verliehen, die den Alltagssexismus nicht mehr hinnehmen wollen. Dabei hat Sexismus beim Flirt auf Augenhöhe nichts verloren. Wer es hingegen zulässt, zum reinen Sexobjekt zu werden, verliert die Augenhöhe - und wird leichter zum Opfer.

Was trotz all der Aufklärung immer noch hinter den Kulissen passiert, wie sich Regisseure, Firmenbosse, Trainer, Pfarrer, Professoren nach wie vor ihre Macht zunutze machen und in der Vergangenheit gemacht haben - wir wissen es nicht. Sicher ist inzwischen nur, dass sie sich nicht mehr sicher sein können, dass alles unentdeckt bleibt. Wenn das nicht ein wunderbarer Erfolg ist.

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