Das halb volle Glas

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Über die Lage in Deutschland und den Umgang der Menschen miteinander macht sich dieser Leser Gedanken:

Das Weihnachtsfest steht vor der Tür. Damit einher gehen unter anderem Spendenaufrufe zum Beispiel für hungernde Kinder und Erwachsene weltweit. Kurzzeitig erinnert sich unsere Zivilgesellschaft auch an die schwächsten Bürger unserer Zivilgesellschaft. Gleichzeitig gibt es aufgrund der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen die Forderung, dass der Wohlstand erhalten bleiben soll.

Wer denkt in dem Zusammenhang an die an der Armutsgrenze lebenden zirka 16,6 Prozent unserer Bevölkerung (steigend), die im Jahre 2023 zirka 20 Prozent armutsgefährdeten Kinder unter 18 Jahren und die bedrohlich zunehmende Anzahl unserer Armutsrentner? Viele Bürger gehen aus Scham nicht zur Tafel. Ich finde es beschämend, diesen Bürgern gegenüber von einem Wohlstand zu reden oder zu schreiben.

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Eine Differenzierung bei der Verwendung des Wortes „Wohlstand“ findet in keiner Weise statt. Es dängt sich bei mir der Eindruck auf, dass bei vielen Mitbürgern bei der oftmals pauschalen Verwendung zum Beispiel der Worte Wohlstand und halb volles Glas der Bezug zu den realen und konkreten zivilgesellschaftlichen Verhältnissen national wie international abhandengekommen ist. Besteht bei einer derartigen oberflächlichen und verallgemeinernden Verwendung der Begriffe nicht die Gefahr, dass es zu einem Abgleiten in die Bereiche Opportunismus, Polemik oder Populismus kommen kann?

„Wir durften 70 Jahre in Frieden und Wohlstand leben“, schrieb eine Leserin am 16. November in ihrem Leserbrief. Wer ist mit wir gemeint und wie wird der erwähnte Wohlstand definiert? Geht es bei dem erwähnten Wohlstand eher um einen monetären und konsumtiven Wohlstand?

Wir, das sind alle Mitbürger unserer Zivilgesellschaft, von den extrem Superreichen, wie sie in dem Buch „Die geheime Welt der Superreichen“ der Schriftstellerin Julia Friedrichs beschrieben werden, bis hin zu den unter uns lebenden Obdachlosen. Mitbürger, die sich aufgrund von Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit das Leben nahmen und nehmen, fallen bei dieser Betrachtung generell „hinten runter“.

Wird bei dem Thema Wohlstand daran gedacht, dass dieser oftmals unter anderem auf die rassistischen und ausbeuterischen Vorgänge während der Kolonialzeit und die blutigen Gewinne im Zusammenhang von Abermillionen Toten und brutal ausgebeuteten Zwangsarbeitern und -arbeiterinnen in der NS-Zeit basiert? Kann es sein, dass mit dem heutigen Lebensstil und Konsum Ausbeutung und Zerstörung von Menschen, Tieren und Umwelt sowie Natur weltweit verbunden ist?

Ich schließe nicht aus, dass Mitbürger mit sehr wenig Geld und einem minimalistischen Lebensstil selbstbewusst sagen, dass sie im Wohlstand leben. Mein vor über 50 Jahren tödlich verunglückter Vater sagte immer, dass es der pure Luxus ist, wenn man ein Dach über dem Kopf hat und nicht hungern muss.

In einem anderen Leserbrief wird am 16. November der „Wohlstand am unteren Ende der Skala“ beschrieben. Schwetzinger Mitbürger freuen sich, wenn sie dreimal wöchentlich die Wärmestube besuchen können. Beklagen tut der Autor, dass die Wärmestuben wahrscheinlich zunehmen werden, obwohl Deutschland so reich ist. Ergänzen möchte ich, dass es darüber hinaus überlastete Tafeln und überfüllte und zunehmende Arche-Stationen gibt. Der Arche-Gründer, Pastor Bernd Siggelkow, sagte einmal sinngemäß, dass es den demnächst stattfindenden 30. Geburtstag gar nicht mehr geben dürfte.

Der Treffpunkt bei der „Brücke“ lindert ausschließlich die Symptome der sozialen Verwerfungen und Ungerechtigkeiten für einige wenige Mitbürger. Soll sich der seit Jahrzehnten bestehende Zustand wirklich weiterhin verstetigen und verschlechtern? Passen in diesem Zusammenhang die Worte „Hoffnung“ und „halb volles Glas“? Ich sage – Nein. Ich kenne kein einziges Beispiel, bei dem ein derartiges Wunschdenken zivilgesellschaftliche Fehlentwicklungen beseitigte.

Was sagte Albert Einstein vor längerer Zeit? „Auf Veränderung zu hoffen, ohne selbst etwas dafür zu tun, ist, wie am Bahnhof zu stehen und auf ein Schiff zu warten.“ Ich stelle mir persönlich vor, was 1988/89 passiert wäre, wenn wir Bürger der ehemaligen DDR in den 1980er Jahren im ruhigen und warmen Sessel gesessen und das halb volle Glas krampfhaft voller Hoffnung umklammert hätten. Das Glas wäre bei dem Druck nicht kaputtgegangen, weil es damals unkaputtbare Gläser gab, die die Nachwendezeit nicht überleben durften.

Mitglied im Verein „Die Brücke“ zu sein, beruhigt möglicherweise ein wenig das eigene Gewissen. In dem Leserbrief vermisse ich eine gehörige Portion Selbstkritik. Alle Mitbürger, vor allem die Mitte unserer Zivilgesellschaft, sind mitverantwortlich dafür, dass sich die sozialen Verwerfungen und das Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich über Jahrzehnte überhaupt erst ausbreiten konnten. Erschreckend ist, dass der größte Teil von ihnen bis zum heutigen Tage fast nichts dazu beigetragen haben und es weiterhin nicht tun, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich schließt. Was unternahm in den letzten 70 Jahren die Schwetzinger Zivilgesellschaft, wie zum Beispiel auch Christen und Mitglieder der C(christlich)DU, konkret im realen Leben gegen diese Fehlentwicklungen? Spenden sind doch nicht die Lösung.

Die zentrale Frage wird bei diesem Thema allerdings immer komplett ausgeklammert. Anstatt Symptome zu beschreiben und zu reparieren, müsste die Ursache ungeschminkt benannt werden. Darauf aufbauend könnten Lösungsansätze und neue Wege raus aus den zahlreichen Missständen entwickelt werden. Ich denke wieder an die Jahre 1988/89.

Bei der „Brücke“ handelt es sich laut Satzung ausschließlich um einen Obdachlosenverein. Der Autor des Leserbriefes erwähnt die Allerschwächsten mit keiner Silbe. In unserer Region gibt es Obdachlose und Bürger wie zum Beispiel in der Dortmunder Straße. Obdachlose sind scheinbar in Schwetzingen unerwünscht und werden menschenverachtend stigmatisiert. Geht der Verein gezielt auf Obdachlose zu, um sie zu den Mahlzeiten einzuladen? Oder bringt man ihnen Essen auf die Straße? Sind die Räumlichkeiten überhaupt für den Satzungszweck ausgelegt? „Die Brücke“ hat nun ein neues Mitglied. Der Mitgliedsbeitrag darf ausschließlich für die Erfüllung des Satzungszwecks eingesetzt werden. Jedes Mitglied erkennt den Paragrafen 2 Absatz 2 der Satzung des Vereins an: „Mitglied kann nur werden, wer die Satzung, den Zweck und die Ziele des Vereins anerkennt.“

Vielleicht schafft es der Leserbriefschreiber, den Satzungszweck wieder mit Leben zu füllen, sodass Obdachlose in der Wärmestube willkommen sind. Er wäre bei diesem Vorhaben nicht ganz alleine.

Jürgen Enseleit, Schwetzingen

Anmerkung der Redaktion: Über neue Entwicklungen im Verein „Die Brücke“ berichten wir auf Seite 9 in dieser Ausgabe.