Brühl. Und weg war er. Quasi bei Nacht und Nebel verschwand im Herbst vor 100 Jahren im Mannheimer Stadtteil Rheinau plötzlich ein kleiner Wald. Der Vorfall ging als „großer Holzklau“ badenweit durch die Presse. Und wer waren die Täter? „Ein Teil der Brühler Bevölkerung, darunter auch solche, die es wirklich nicht nötig hätten“, berichtete beispielsweise das „Durrlacher Tagblatt“ damals.
1923 war zweifellos kein einfaches Jahr für die Menschen in Deutschland und damit auchnicht in Brühl. Vor einem Jahrhundert kam es zu drei Ereignissen, die gefährlich für die Demokratie der Weimarer Verfassung waren. Nachdem die deutsche Regierung beschlossen hatte, die Reparationszahlungen einzustellen, marschierten die Franzosen in mehrere Städte Deutschlands ein – unter anderem besetzten deren Truppen den Mannheimer Hauptbahnhof, den Hafen und das Schloss. Produktion und Handel kamen zum Erliegen. Das reparationspflichtige Deutsche Reich hatte bei den Siegermächten riesige Schulden – und zusätzlich auch noch bei der eigenen Bevölkerung. Denn die hatte während der Kriegsjahre dem Staat Millionen von Mark für die Kriegskosten vorgestreckt – in sogenannten Kriegsanleihen. Deutschlands Wirtschaft lag aber 1923 in Scherben, der Staat war pleite. Um dennoch seine Schulden bezahlen zu können, wurde ständig mehr Geld gedruckt. Die Brühler rechneten bald in Bündeln statt Scheinen.
Geld wurde in Schubkarren transportiert, die Scheine als Heizmaterial zweckentfremdet, die Rückseite als Schmierpapier benutzt. Auf dem Höhepunkt der Inflation wurde im November 1923 eine neue Währung geschaffen: die Rentenmark, ab Oktober 1924 schließlich die Reichsmark.
Regierung büßt Vertrauen ein
Der Versailler Friedensvertrag aus dem Ersten Weltkrieg wurde derweil von den Deutschen insgesamt als Diktatfrieden angesehen, der die junge Republik in ihrer Unabhängigkeit einschränke. Die Bevölkerung hatte aufgrund der Hyperinflation das Vertrauen in die Regierung verloren. Dadurch wurden demokratie-feindliche Ansichten begünstigt.
Rechtsradikale werden stark
Insbesondere rechte Parteien wie die NSDAP erhielten Zuspruch. Im November 1923 rief Adolf Hitler eine nationale Revolution aus. Er verkündete den „Marsch auf Berlin“. Zusammen mit General Erich Ludendorff erklärte er die zur Zeit herrschende Regierung für abgesetzt. Mit ihren Anhängern marschierten die beiden zur Feldherrnhalle in München. Dort wurden sie von der Polizei gestoppt – es gab Tote. Daraufhin wurde Hitler, der zuvor eher unbedeutend war, im ganzen Reich bekannt. Die schlimmen Folgen dieser Entwicklung führten Jahre später bekanntlich in den Untergang mit Millionen Toten.
Aber nicht nur die große Politik setzte den Brühlern zu. Es mangelte den Menschen vor 100 Jahren an wichtigen Erzeugnissen – beispielsweise an Brennholz für die kommenden Winter. So gingen die Brühler im Herbst 1923 auf Holzraub – in der Gemeinde selbst war nicht viel zu holen, aber in Rheinau gab es einen Wald. „In einer der letzten Nächte wurde die Diebesarbeit in einem solchen Ausmaß vorgenommen, dass in kurzer Zeit ein etwa 70 Ar großes Waldstück völlig abgeholzt war“, berichtet die Presse damals.
Die Polizei ermittelte und schon bald waren 80 Holzdiebe festgestellt worden, „aber im ganzen kommen rund 200 Personen in Frage, die an den Holzdiebstählen beteiligt sind“, meldeten die badischen Beamten. Damit war bei damals rund 3400 Einwohnern wohl so ziemlich jeder Haushalt an dem Beutezug beteiligt.
Nicht weiter verfolgt
Unsere Zeitung berichtete in jenen Tagen weiter, dass die Gendarmerie allerdings damals an einem Eingreifen gegen den „Waldfrevel“ durch die französischen Besatzer gehindert wurde, weil der Wald im besetzten Gebiet gelegen war – deutsche Polizei war unerwünscht. „Es wurden einige Wagen gestohlenen Holz beschlagnahmt und abgefahren“, fassten der damalige Redakteur die Geschehnisse zusammen.
So scheinen die Täter vor 100 Jahren mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Dr. Volker Kronemayer, der als Vorsitzender des Vereins für Heimat- und Brauchtumspflege diesen „Waldfrevel“ in den Zeitungsarchiven entdeckte, sieht in der Tat – ganz nach Schweizer Vorbild – dass die Brühler im Herbst 1923 „ein einig Volk von Brüdern“ waren.
Es sei so gelungen, den Winter zu überstehen. Man habe also mit dem Abholzen in der Nachbarstadt quasi politisch und ungestraft gegen den Mangel durch die Wirtschaftslage gekämpft. Inzwischen sind die Taten übrigens juristisch verjährt.
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/orte/bruehl_artikel,-bruehl-wieso-bruehler-vor-100-jahren-einen-wald-verschwinden-liessen-_arid,2136309.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.schwetzinger-zeitung.de/orte/bruehl.html