Gedenken - Mit der Verlegung der Stolpersteine wird an die Opfer der Nazis erinnert / Bei der dritten Aktion wurden gestern vier neue Namen dem Vergessen entrissen

Leuchtfeuer im Dunkel der Erinnerung

Von 
Andreas Wühler
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Der Künstler Gunter Demnig verlegt in der Heidelberger Straße die Stolpersteine, die an Jeanette und Elise Halle erinnern. © Lenhardt

Als der Künstler Gunter Demnig Anfang der 1990er Jahre die Idee der Stolpersteine entwickelte, war ihm eines von Anfang an wichtig – die Einbeziehung der Jugend. Sie sollte die Fackel der Erinnerung weitertragen und somit die Mahnung, dass sich die Verbrechen der Nazi-Zeit niemals wiederholen dürfen.

Es waren die Lehrer, erinnerte sich Demnig am gestrigen Morgen bei der dritten Stolpersteinverlegung in der Stadt, die ihn davor gewarnt hätten, mit seiner Idee auf die Schüler zuzugehen. „Das hängt denen zu den Ohren heraus“, mutmaßten die Pädagogen mit Blick auf die Lehrpläne, in denen die Zeit der Nazi-Herrschaft durchaus vorkommt. Doch angesichts von sechs Millionen ermordeter Juden und weiterer acht Millionen Menschen, die aus anderen Gründen von den Nazis, den Deutschen, ermordet wurden, wollte Demnig das nicht glauben.

Zahlen ein Gesicht geben

Nein, der Künstler hegte die Vermutung, dass die abstrakte Opferzahl zwar rational, aber nicht emotional zu fassen ist. Er wollte den Opfern Namen geben, sie als Personen aus der Geschichte auferstehen lassen und greifbar machen. Sie sollten ihre Geschichten erzählen, vom Leid, das ihnen angetan wurde, von dem Grauen, wenn ihnen die Kinder entrissen, Familien zerstört wurden, von der Unbarmherzigkeit des Schicksals, wenn die Flucht ins Ausland gelungen war, nur um erneut ein Opfer der vorrückenden Wehrmacht, der Nazis zu werden.

Diese Mahnung, dieses sich Erinnern und nicht Vergessen, ist nicht nur ein Moment, das die Schüler bewegt, das es ihnen ermöglicht, das Leid der Opfer nachzuvollziehen, ist integraler Bestandteil der Stolpersteine. Sie erinnern, reißen Häuser und Orte zurück in die 1930er und 1940er Jahre, vermitteln das individuelle Leid der Opfer und bringen im wahrsten Sinn des Wortes die Gedanken zum Stolpern.

Weshalb Bürgermeister Thomas Jakob-Lichtenberg in seiner Begrüßung der Gäste, die sich zur dritten Stolpersteinverlegung in Hockenheim an der Ecke Park- und Heidelberger Straße eingefunden hatten, den Künstler Gunter Demnig als ein „Leuchtfeuer in der Dunkelheit der Erinnerung“ bezeichnete. Auf dem Jakobsweg finde sich eine Aussage, die dies treffend formuliere, betonte Jakob-Lichtenberg – „Stolpersteine sind unsere Wegweiser“. Sie seien ein „Kompass im Gedenken an die schreckliche NS-Zeit, die auch in Hockenheim gewütet hat“. Sie würden einen Weg in eine hoffentlich friedliche Zukunft weisen, „die frei von solch unsagbaren Gräueltaten ist“. „Die Stolpersteine sind damit ein wesentlicher Bestandteil unserer NS-Erinnerungskultur in Hockenheim“, betonte der Bürgermeister.

Eingangs hatte Jakob-Lichtenberg nicht nur den Künstler und Familie Brandenburger vom Arbeitskreis Jüdische Geschichte, die Mitwirkenden des Gauß-Gymnasiums, der Schule am Kraichbach und der Theodor-Heuss-Realschule begrüßt, sondern auch Hugo und Fanny Halle. Hugo Halle nahm als Nachfahre seiner Großtanten Jeanette und Elise Halle an der Aktion teil und war dafür eigens mit seiner Frau Fanny aus Buenos Aires angereist. Er selbst war der Deportation nur entkommen, weil er 1938 nach Argentinien auswanderte.

Den Schülern von Gymnasium und Schule am Kraichbach blieb es sodann vorbehalten, mit kurzen Texten auf die Geschichte von Jeanette und Elise Halle sowie von Karl und Meta Stoll, für die der Stolperstein in der Körnerstraße 11 verlegt wurde, hinzuweisen.

Gestorben in Bergen-Belsen

Jeanette Halle, geboren 1868, und Elise Halle, geboren 1882, waren Töchter von Hermann und Friederike Halle. Ihr Vater war ein erfolgreicher Zigarrenfabrikant, über 300 Hockenheimer waren bei ihm, in der zweitgrößten Zigarrenfabrik der Stadt, beschäftigt.

Nach dem Tod der Eltern lebte Jeanette von 1931 bis 1938 im jüdischen Altersheim in Neustadt, das in der Pogromnacht angezündet und zerstört wurde. Sie floh zu Fuß barfuß zu ihrer Nichte und ihrem Neffen nach Mannheim. Dort wurde sie von den Nazis abgeholt und letztlich im Viehwaggon zusammen mit 118 anderen Juden aus Mannheim nach Südfrankreich ins Internierungslager Gurs deportiert. Einundfünfzig Tage nach der Verschleppung starb die 72-Jährige am 13. Dezember 1940 in Gurs.

Elise Halle war mit dem Webwarengroßhändler Salomon Nossbaum verheiratet und wohnte in Frankfurt. Das Ehepaar hatte fünf Kinder. Die Familie floh vor den Nazis nach Amsterdam. Als Holland von den Nazis besetzt wurde, fanden sie keinen Schutz mehr und wurden im Juni 1943 ins Konzentrationslager Westerbork eingeliefert. Von dort kamen sie 1944 ins Konzentrationslager Bergen-Belsen. Elise erlebte noch die Befreiung des Lagers, doch drei Tage nach Kriegsende starb sie an Entkräftung. Ihr Mann starb schon im März 1945 im KZ. Drei ihrer fünf Kinder, die gleichfalls im Konzentrationslager waren, wurden befreit und überlebten.

Im Rathaus gefoltert

Der Kesselschmied Karl Stoll, geboren am 5. Dezember 1902, stand den Kommunisten nahe und war ein Gegner der Nazis. In den 1944er Jahren kämpfte er mit Plakaten gegen die Nazis, bis er von der Schutzpolizei verhaftet wurde. Im Zimmer des Bürgermeisters wurde er von diesem, dem Leiter der Schutzpolizei, dem Ortsbauernführer und der Gestapo schwer misshandelt. Stoll kam anschließend ins Mannheimer Landesgefängnis, wo er 1945 bei einem Luftangriff ums Leben kam – Gefangene durften nicht in den Luftschutzkeller. Seine Frau Meta, Jahrgang 1905, die gleichfalls verhaftet worden war, wurde nach dem Krieg in Hockenheim lange als Vaterlandsverräterin ausgegrenzt.

Umrahmt wurde die Gedenkstunde vom Bläserensemble der Theodor-Heuss-Schule und dem Chor der Schule am Kraichbach. Sie, und die Schüler die die Schicksale der Familien Halle und Stoll aufgearbeitet hatten, trugen die Fackel weiter, die Demnig vor bald drei Jahrzehnten mit seiner Aktion entzündete.

Eine Fackel, die sich mittlerweile in ganz Europa ausgebreitet hat, 73 000 Steine in 24 Ländern, in diesem Jahr kommen noch Schweden, Dänemark und Serbien dazu, erinnern an die Opfer der Nazis, und die in die nächste Generation getragen werden soll, Demnig löst sie mit einer Stiftung von seiner Person los.

Info: Weitere Bilder unter www.schwetzinger-zeitung.de

Hockenheim.

Stolpersteine erinnern an die Opfer der Nazis

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