Reilingen. Die Lebenserwartung von Depressiven ist deutlich geringer als die „gesunder“ Menschen. Und das hat weit mehr Gründe als nur die 40-fach erhöhte Wahrscheinlichkeit des Suizids. Zumindest sagt das die Diplompsychologin Claudia Jessen, die im Rathaus Reilingen einen Vortrag unter dem Titel „Depression – einfach traurig oder schon depressiv?“ hielt.
Einen Fragebogen für die kassenärztliche Vereinigung, ungefähr ein halbes Dutzend Flyer und Visitenkarten von möglichen Ansprechpartnern – Sandra Schmidt von der Gemeinde Reilingen hat das Trauzimmer des Rathauses bestens auf den Vortrag vorbereitet. Sie weiß um die Sensibilität des Themas, sagt Schmidt in der Begrüßung. Gerade deshalb freue sie sich sehr, dass nahezu alle Stühle – die normalerweise für Hochzeitsgäste reserviert sind – an diesem Abend von Menschen besetzt wurden, die sich für das Krankheitsbild „Depression“ interessieren.
Und dann kann es schon losgehen. Die Diplompsychologin erzählt, dass sie eine Praxis in Mannheim führe und auf Verhaltenstherapie spezialisiert sei. Bei ihrem Vortrag wolle Claudia Jessen über die Diagnostik, über Suizidalität, Ursachen und die Behandlung der psychischen Störung sprechen. Informationen zur Erkrankung seien wichtig, immerhin leide jede fünfte Person im Laufe ihres Lebens unter dem vermutlichen Hormonungleichgewicht – damit ist sie die zweithäufigste psychische Krankheit nach den vielseitigen Angststörungen. Direkt an den Anfang des Vortrags macht Jessen deutlich: „Es gibt keinen Grund, sich für die Krankheit zu schämen.“
Depressionen verstehen: Symptome und Diagnostik
„Das Hauptsymptom einer Depression ist die Veränderung der Stimmung“, so Jessen. Dazu kämen ein Verlust der bisherigen Interessen und eine generelle Freudlosigkeit. Das alleine bedeute allerdings noch nicht, dass ein Betroffener tatsächlich Depressionen habe. Die Symptome müssten für eine Diagnose mindestens zwei Wochen anhalten und einen gewissen Leidensdruck in der Person auslösen. Hinzu kämen eine Reihe von möglichen Komorbiditäten.
So würden 80 Prozent der Betroffenen auch unter Schlafstörungen leiden, gerade schwer Depressive könnten psychotische Symptome entwickeln – oft seien das für die Krankheit typische Schuldgefühle, die sich bis zum Wahn entwickeln – und manch einer habe sogar suizidale Gedanken.
Die Auswirkungen von Depressionen auf die Lebenserwartung
„Trotz der vielen Auswirkungen ist die Diagnostik nicht willkürlich“, versichert Jessen. Diagnostizieren würden Therapeuten und Ärzte nach den Vorgaben des sogenannten ICD-10, einem Fragebogen zum Bewerten von Symptomen, wonach ein vermeintlich Depressiver an mindestens zwei Haupt- und noch zusätzlichen Symptomen leiden müsse, um die Diagnose zu erhalten. Je nachdem, wie hoch die Anzahl der Symptome und wie schwer das Leiden unter diesen ist, werde der Patient in die Kategorie „leicht“, „mittel“ oder „schwer“ eingeteilt.
Ein klares Konzept, nach dem eine Person die eigenen Symptome einordnen könnte, gebe es trotzdem nicht. „Jede Depression ist anders“, sagt die Psychologin dazu. So gebe es in der Regel, in der theoretischen und vereinfachten Vorstellung, das phasenweise Auftreten der Erkrankung. Trotzdem kann eine Depression auch chronisch sein (Dysthymie) oder bei Frauen zyklusassoziiert.
Der Einfluss von Depressionen auf den Lebensstil und die Gesundheit
Zusätzlich sei eine Eigendiagnose nicht möglich, da es eine Reihe Krankheiten gebe, die entweder die gleiche oder eine ähnliche Symptomatik hervorrufen. Beispielsweise nennt Jessen an dieser Stelle die Schlafapnoe und Schilddrüsen-Erkrankungen.
Bei einer vermuteten Depression sollte der Betroffene außerdem die Beipackzettel der Medikamente studieren, die er schon nimmt – viele haben nämlich symptomähnliche Nebenwirkungen.
Den oft zitierten Burnout gebe es übrigens als offizielle Diagnose überhaupt nicht, erklärt die Psychologin. Es handle sich meist um eine Depression, Panikstörung oder andere psychische Erkrankung, die vom hohen Stress begünstigt worden seien.
Wann Depressionen tödlich enden können
Zwar könne die Erkrankung in jedem Alter auftreten, trotzdem zeige die Statistik, dass die Wahrscheinlichkeit im Alter steige. Wenn die Krankheit schon früh auftrete, sinke die Lebenserwartung des Betroffenen rapide. Natürlich liege das einerseits daran, dass die Suizidwahrscheinlichkeit expotenziell in die Höhe schießt, es gebe allerdings weitere Faktoren, die einen früheren Tod wahrscheinlicher machen, weiß Jessen.
Gerade bei einer langen depressiven Episode oder gar einer chronischen Depression entwickle der Betroffene in vielen Fällen einen „depressiven Lebensstil“. So liege es in der Natur der demotivierenden Erkrankung, dass der Betroffene oft ungesünder esse, suchtanfällig sei und keinen Sport treibe. Dazu erkranken Depressive auch öfter an körperlichen Beschwerden. Ob und inwieweit die negativen Gedanken eines Betroffenen seine körperliche Gesundheit verletzen kann, sei in der Forschung viel diskutiert und nicht abschließend geklärt. Fakt sei aber, dass die Lebenserwartung unbehandelter Erkrankter rapide sinke.
Woher kommt die Krankheit und wie wird sie behandelt?
Jede Depression sei individuell. Trotzdem gebe es zumindest theoretische Ansätze, die allgemeingültig erklären, woher die Gedankenkrankheit komme. Das bekannteste sei das sogenannte „Biopsychosoziale Modell“, das die Vulnerabilität, also die Angreifbarkeit eines Menschen als Grundlage versteht. Unter diese zähle Anfälligkeit eines Menschen, seine Lebensgeschichte und Erziehung sowie die vererbten Gene. Doch nur wegen einer hohen Vulnerabilität muss eine Depression nicht ausbrechen. Hinzu komme dann aktueller Stress, beispielsweise von der Arbeit oder einer Trennung.
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Doch wie geht die Erkrankung wieder weg? Die Behandlung beziehe sich auf zwei Säulen, Psychotherapie und Medikation. Da Antidepressiva und deren Wirksamkeit ein komplexes Thema sei, konzentriere sich Jessen im Vortrag auf die Psychotherapie. Diese sei bei jeder Person individuell, so wie eben auch der Mensch. An erster Stelle stehe aber immer eins: „Psychotherapie ist die Hilfe zur Selbsthilfe.“ Der Patient dürfe nicht darauf warten, bis seine Motivation aufs Leben wiederkehre, er müsse aktiv werden und der Krankheit widerstreben. Erst mit erfüllenden Tätigkeiten käme auch die Lust wieder, ist sich Jessen sicher.
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