Sommer-Essays

Der Kompromiss: die größte Errungenschaft der Menschheitsgeschichte

Von 
Stefan Kern
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Der Kompromiss hat es nicht leicht. © Khaled Daoud

Region Rhein-Neckar. Er ist alles zugleich. Fundament jeder gelingenden Gemeinschaft von der Paarbeziehung bis zum internationalen Staatenwesen, aber auch Saatkorn des Scheiterns und Untergangs. Er gilt als politische Königsdisziplin und wird doch auch immer wieder als Zeichen der Schwäche und als faule Angelegenheit gedeutet. Der Kompromiss hat es nicht leicht.

Der frühere USA-Korrespondent und Tagesthemensprecher Ingo Zamperoni erklärt in seinem Buch „Fremdes Land Amerika“, dass das Wort Kompromiss in den USA mittlerweile zu einem Schimpfwort degeneriert ist. „Der Politiker, der einen Kompromiss eingeht, gilt als schwach und nicht durchsetzungsfähig.“ Dabei sei die Suche nach einer Verständigung der Beginn aller Kommunikation. Es ist die Erkenntnis, dass die eigene Sicht nicht Maß aller Dinge und die Perspektive des anderen legitim ist.

„Man kann mit einem Tiger nicht vernünftig reden, mit dem Kopf in seinem Maul.“

Trotzdem ist der Kompromiss kein Allheilmittel. Er ist ein schmaler Grat in einem enorm komplexen Interessengeflecht und er kennt Grenzen.

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Grenzen, die nie so grell beleuchtet wurden wie bei der Auseinandersetzung zwischen den beiden britischen Politikern Neville Chamberlain und Winston Churchill in den Jahren 1933 bis 1940 angesichts der Gefahr durch Adolf Hitler. Premierminister Chamberlain wollte einen Krieg um fast jeden Preis verhindern. Seine Antwort auf Hitler war eine Beschwichtigungspolitik (Appeasement), die dem Tyrannen aus Berlin zunehmend Handlungsräume eröffnete. Churchill suchte dagegen die kompromisslose Konfrontation. Legendär sein Satz: „Man kann mit einem Tiger nicht vernünftig reden, mit dem Kopf in seinem Maul.“

Ohne Kompromisse erstickt das Gemeinsame

Und genau hier findet sich die wohl klarste Grenze für jeden Kompromiss. Denn er setzt Selbstbewusstsein, Vernunft und Mäßigung, die Akzeptanz der Perspektive des anderen und den Willen zur Verständigung voraus. Voraussetzungen, die alles andere als selbstverständlich sind. Wer die eigenen Interessen absolut setzt, zerstört jeden Interessensausgleich und damit jeden Gemeinsinn. Übersetzt auf die Paarbeziehung heißt das, dass einer von beiden seine Interessen in Gänze hinten anzustellen habe. Und ganz egal, wie stark dieses Hintenanstellen verdrängt werde, es geht auf die Dauer ein wachsendes Konfliktpotenzial damit einher. Liebe macht dem Hass Platz. Der Kompromiss ist in der Beziehung zwischen zwei Menschen vergleichbar mit der Luft zum Atmen. Ohne Kompromisse erstickt das Gemeinsame. Übrig bleiben Isolation, Abhängigkeit und Hass.

Und ganz ähnlich scheint das auch zwischen Nationen und Völkern zu sein. Das vermeintliche Setzen auf Stärke im Katalonien-Konflikt hat den Zersetzungsprozess für das Gemeinsame erheblich beschleunigt. Anstatt über Kompromisse Spielräume zu eröffnen, haben die spanische Zentralregierung und die katalanischen Separatisten das Spielfeld und den Horizont verengt und damit Handlungsoptionen aus der Hand gegeben. Sie alle vertreten eine Linie des „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Es ist der Verzicht auf jedes planende und vorausschauende Handeln zugunsten eines Heldeneposes.

Nachhaltige Gesellschaftssysteme auf Abwägung und Verständigung gegründet

Handeln entlang dieser Prämisse führt in den Augen des Philosophen Andreas Urs Sommers am Ende immer in eine totalitäre Gesellschaft. Und so verwundert es nicht weiter, dass der in Freiburg lehrende Philosoph den Kompromiss zu den größten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte zählt. Am Ende gehe es darum, die Perspektive des anderen nicht nur wahr, sondern auch ernst zu nehmen. Der entscheidende zivilisatorische Schritt. Denn nachhaltige Gesellschaftssysteme seien auf Abwägung und Verständigung gegründet. Auf lange Sicht würde kompromissloses Verhalten nur die Spannung innerhalb der Gesellschaft erhöhen, was sich destabilisierend auswirkt.

Die Kompromissbereitschaft erscheint aus diesem Blickwinkel nicht als Zeichen innerer Schwäche, sondern als Ausdruck von Verantwortung. Von der Paarbeziehung über die Wirtschaft bis zur Politik scheint der Kompromiss das Lebenselixier gelingender Gemeinschaften zu sein. Im Kompromiss finde man das eigentliche zivilisatorische Rezept für ein friedliches Miteinander.

Die Kompromissbereitschaft befeuert die Eskalationsspirale

Aber eben nur bis exakt an die Tyrannen- oder Fanatikergrenze. Die schwierige Frage, so der Berliner Politologe Herfried Münkler, sei, ab wann man es mit einem Tyrannen zu tun habe und ab wann ein Tyrann ein Tyrann sei. Grob kann die Grenze bei der Meinungsfreiheit gezogen werden. Wenn dem Gegenüber das Recht auf eine eigene Meinung abgesprochen werde, beginnt sich die Wirkung der Kompromissbereitschaft ins Gegenteil zu verkehren. Es wird nicht mehr gemeinsam ein neues Feld betreten, sondern der eine räumt für den anderen das Feld. Die Kompromissbereitschaft befeuert die Eskalationsspirale. Aber diesen Punkt zu bestimmen, an dem sich die Kompromissbereitschaft gegen den Kompromissbereiten wendet, ist.

Der ehemalige US-Präsident Donald Trump, der russische Präsident Wladimir Putin, der türkische Präsident Recep Erdogan, der indonesische Präsident Joko Widodo oder der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán - jeder stellt auf seine Weise den Sinn von Kompromissbereitschaft infrage. Ab wann wird das Entgegenkommen beim Gegenüber als Schwäche ausgelegt? Ab wann ist das Grenzensetzen und das Klardagegenangehen angezeigt? Beides birgt Risiken. Sowohl zu lange nach einem Ausgleich zu suchen, wie auch zu früh Front zu machen, kann in den Konflikt führen. Die entscheidende Frage lautet für den Politologen Albrecht von Lucke, „wie lange kann man auf den Gegner zugehen, ohne das eigene Gesicht zu verlieren“.

In Schwierigkeiten gerät das Kompromissgerüst auch angesichts großer Fragen. Die Sozialwissenschaftlerin und frühere Grünen-Politikerin Jutta Ditfurth sieht bei Fragen zu Krieg und Frieden keine Chance auf einen Kompromiss. „Wie soll der bitte schön denn aussehen, ein bisschen Krieg?“ Hier ist in ihren Augen unmissverständlicher Widerstand zielführender.

Philosophie der Ellbogengesellschaft zeigt zunehmend Wirkung

Aber auch sie bezweifelt nicht, dass der Kompromiss am Ende das einzige Instrument für gelingende Gemeinschaft sei. Egal, ob auf Paar- oder EU- und UN-Ebene, ohne die Bereitschaft, Zugeständnisse zu machen und die verschiedenen Interessen zu berücksichtigen, hätten Frieden und Glück keine Chance.

Blöd nur, dass der Kompromiss in unserer profil- und ich-fixierten Zeit unter die Räder zu geraten droht. Die Philosophie der Ellbogengesellschaft zeigt zunehmend Wirkung.  Eine Gesellschaft, in der jeder sein eigenes Ich fast pornografisch ausstelle, so der aus Südkorea stammende und heute an der Universität der Künste Berlin lehrende Philosoph Byung-Chul Han, entwickle kaum Plattformen des Austausches und Gemeinsinns. Das Ich wird absolut gesetzt und das Wir löst sich auf. Eine Entwicklung, die vor allem demokratische Gesellschaften zerreißen wird.

Der Kompromiss, daran lässt der Bayreuther Philosoph Rudolf Schüßler am Ende keine Zweifel aufkommen, ist die entscheidende Grundlage demokratischer Meinungsbildung. Der frühere Arbeitsminister Norbert Blüm erklärte einst, dass die Durchsetzer für ihn „die eigentlichen Schlappschwänze“ seien. „Die Kompromissfähigen sind die Mutigen.“ Für den verstorbenen CDU-Politiker waren sie es, die eine prosperierende und anständige Gesellschaft ermöglichen. Eine Gesellschaft, in der Menschen mit verschiedenen Interessen und Bedürfnissen möglichst frei und selbstbestimmt leben können. So frei, wie es in der gesamten Weltgeschichte zuvor noch nie möglich war.

So gesehen gehört der Kompromiss wahrhaft zu den größten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte.

Freier Autor Stefan Kern ist ein freier Mitarbeiter der Schwetzinger Zeitung.

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