Schwetzingen. Dr. Bernhard Graf: Ich beschäftige mich schon seit 1998 als Historiker mit den Wittelsbachern. Zu seinem 200. Todestag 1999 erschien dann der erste Dokumentarfilm von mir über Carl Theodor mit dem Titel „Herr der sieben Länder. Kurfürst Carl Theodor von Baiern und der Pfalz“. Inzwischen sind fünf Filme entstanden, die sich mit seiner Regierungszeit beschäftigen. Ich habe schnell gemerkt, dass dieser Mann ein großes Potenzial für die Filmdramaturgie bietet. Schließlich war ihm von seiner Geburt her nicht automatisch beschieden, einmal Herrscher zu werden. Als Zweitgeborener Prinz eines ebenfalls nachgeborenen Prinzen hätte er eigentlich nur das Erbe seiner Mutter bekommen. Carl Theodor hat dann als Vierjähriger seine Mutter Maria Anna Henriette Markgräfin von Bergen op Zoom verloren und als Neujähriger seinen Vater Johann Christian Pfalzgraf zu Sulzbach. Aufgewachsen war er bis dahin aber eh bei der Urgroßmutter in Drogenbusch und im Winter in der damaligen Weltstadt Brüssel. Sie hatte immer wieder Carl Theodors Paten, den Mannheimer Kurfürsten Carl III. Philipp um Unterstützung bei der Erziehung gebeten, weil sie das Potenzial des Kindes, das schon wie ein Erwachsener wirkte, erkannt hatte. Als Vollwaise kam er dann nach Mannheim – und zuvor schon wurde bereits die Verlobung des erst Neunjährigen mit der zwölfjährigen Elisabeth Auguste arrangiert. Aber auch die tragischen Beziehungen zu seinen beiden Frauen, die ihn mehr oder weniger offen betrogen haben und natürlich die Tatsache, das Carl Theodor inmitten dieses damals kriegerischen Europas eine Hochkultur etabliert hat und den bedeutendsten Musenhof des Kontinents mit Voltaire, Mozart und den Komponisten der Mannheimer Schule unterhielt, hat mich fasziniert und bei meinen Forschungen immer wieder angespornt.
Kann man sagen, dass Carl Theodor in Schwetzingen seine glücklichste Zeit verlebt hat?
Graf: Er zeigte sich als Kind in Mannheim eher fremdelnd und schüchtern. Er studierte fleißig und entwickelte sich unter seinen Erziehern zu einem sehr vielseitig begabten jungen Mann. Aber auch in der Beziehung zu seiner ersten Frau Elisabeth Auguste war sie die dominante Person. Aus Kriegen versuchte sich Carl Theodor stets herauszuhalten, er wusste, dass er da mit anderen Herrschern und deren Militär einfach nicht mithalten kann. Vielmehr interessierte in die neue Erfindung des Augsburger Instrumentenbauers Johann Andreas Stein: der Hammerflügel. Mit der Bibliothek und der Akademie baute er die Wissenschaft aus, er ließ die Sternwarten in Schwetzingen und Mannheim errichten, war da selbst höchst interessiert. Während seine Gattin Elisabeth Auguste eher die französische Komödie mochte, war er dem modernen deutschen Theater gegenüber sehr aufgeschlossen. Nur so konnte das Mannheimer Nationaltheater gegründet werden. Seinen Gartenmeister Friedrich Ludwig Sckell schickte er nach England und beauftragte ihn dann, den ersten englischen Landschaftsgarten auf dem europäischen Kontinent hier zu gestalten – später gab er in München sogar den allerersten Volkspark in Auftrag, in den jeder Zugang haben sollte. Frankenthal hat er zum Wirtschaftsstandort gemacht und er hat die Porzellanmanufaktur einem Privatunternehmer übergeben. Das war ungewöhnlich. In Düsseldorf entstand eine erste öffentliche Promenade und das Schloss Benrath wurde zu einem Maison de Plaisance - also zu einem Ort, an dem man sich zurückziehen konnte. Das alles war zukunftsweisend. Aber es stimmt wohl auch, dass nach dem zeitgenössischen Schriftsteller Johann Kaspar Riesbeck Carl Theodor als Kurfürst zu gutmütig agierte.
Hat bei ihm selbst eine Veränderung stattgefunden, als er nach München wechseln musste?
Graf: Er kannte ja München schon von Besuchen und wusste, was da auf ihn zukommt. Man muss sich vorstellen, dass die Stadt beim Tod von Max III. Joseph 1777 etwa 40 000 Einwohner hatte, von denen 1500 Bettler waren. Die Zustände waren alles andere als schön, das Kurfürstentum war hoch verschuldet, die hygienischen und politischen Verhältnisse schwierig. Carl Theodors Unbehagen war immens. Hinzu kam, dass es seiner Frau Elisabeth Auguste in München gar nicht gefiel, sie bald schon wieder in die Kurpfalz abreiste und dort auch blieb. Carl Theodor träumte von einem Königreich am Rhein und zog einen Gebietstausch zwischen Kurbayern und den Österreichischen Niederlanden in Betracht, um dies verwirklichen zu können. Das führte zu großen Widerständen und dem Vorwurf, der Kurfürst wolle Bayern verkaufen. Und auch innerhalb der Familie baute sich Widerstand auf. Carl Theodor litt ab 1780 an schweren Schlafstörungen, erlitt mehrere Schlaganfälle. Es ist eigentlich ein Wunder, dass er sich davon wieder erholte und dann noch bis 1799 lang lebte. Er war ja sehr religiös und unternahm eine zweite Pilgerfahrt nach Rom, wo er sich von Papst Pius VI. segnen ließ und die antiken Stätten besichtigte.
Warum konnten ihn die Bayern eigentlich nicht leiden? Die Kurpfälzer waren doch begeistert von ihm.
Graf: Zum einen natürlich wegen der Tauschpläne, die die Bayern dann zu Österreichern gemacht hätte. Zum anderen aber auch, weil zu viele Kurpfälzer wichtige Positionen am Hof eingenommen haben und sich so die Einheimischen zurückgesetzt gefühlt haben. Und dann hat er auch noch einen Amerikaner zum Minister gemacht. Wenn Söder das heute machen würde, wäre in Bayern immer noch der Teufel los.
Wer war dieser Amerikaner?
Graf: Es war der Physiker und Erfinder Benjamin Thompson, der infolge seiner Sympathien gegenüber den Briten von den Amerikanern angeklagt jedoch freigesprochen wurde. Trotzdem blieben die Anfeindungen ihm gegenüber in neu entstandenen Vereinigten Staaten von Amerika bestehen, so dass er seine Heimat und Familie verließ und als Oberst in die britische Armee eintrat. Doch bald war er auf dem Weg nach Wien und machte bei Maximilian Joseph Pfalzgraf von Pfalz-Zweibrücken in Straßburg halt, der ihm von seinem Onkel erzählte und ihn nach München schickte. Carl Theodor war sofort von Thompson begeistert und machte ihn zum Leibadjutanten und Mentor seines illegitimen Sohnes Carl August Graf von Bretzenheim. Bald wurde Thompson Kriegsminister und später Polizeichef. In diese Zeit fiel das Verbot der sogenannten Illuminaten. Zu denen gehörte auch der damalige Schriftsteller Lorenz Westenrieder. Obgleich die Münchner Akademie der Wissenschaften ihn als Professor und Landeshistoriografen vorschlug, lehnte Carl Theodor ihn gleich zweimal ab. Fortan versuchte er sich durch besonders kritische und ehrabschneidende Beiträge an ihm zu rächen. Er prägte ein falsches Bild des Kurfürsten in der Öffentlichkeit.
Aber Carl Theodor hat doch mit dem englischen Garten und vielen anderen fortschrittlichen Dingen auch in München Gutes bewirkt?
Graf: Absolut. Denken Sie nur an den Englischen Garten als neuartigen Volkspark, der ja lange Zeit nach ihm Theodorspark hieß und darin alle Menschen lustwandeln konnten. Zu den zukunftsweisenden Maßnahmen gehörte auch die Öffnung des Hofgartens hinter der Residenz für die Bevölkerung. Mit der allgemein zugänglichen Hofgartengalerie hat er damals schon die Grundlagen der heutigen Pinakothek geschaffen. Zudem zog Europas bedeutendster Musenhof mit ihm von Mannheim nach München um. Und der soziale Bereich: Um das Armutsproblem zu beseitigen, hat Carl Theodor eine ehemalige Wollmanufaktur in der Au zu einem militärischen Werkhaus umbauen lassen, um Uniformen und Kleidung herzustellen und Handwerker dort anzusiedeln. Das hat 1200 Menschen Arbeit gegeben, auch schon vielen Frauen, deren Kinder dort zur Schule gehen konnten. Die Mütter durften, wenn ein Kind krank war, zu Hause bleiben. Und sie haben dort für sich und ihre Kinder zu essen bekommen. Übrigens hat Benjamin Thompson, den Carl Theodor zum Reichsgrafen Rumford nobilitierte, in Bayern die Kartoffel eingeführt. Vereinzelt war sie schon auf dem Tisch gelandet, aber sie wurde oftmals falsch zubereitet. Thompson ließ die nach ihm benannte Rumford-Suppe zubereiten mit Graupen, Erbsen und Kartoffeln – sehr nahrhaft und günstig. Selbst der Kartoffelsalat – eine urbayerische Spezialität – soll damals erfunden worden sein. Ganz wichtig war aber, dass Carl Theodor die von den Wittelsbachern auf 25 Millionen Gulden aufgetürmten Schulden abgebaut hat, vor allem durch die Steigerung der Einnahmen aus der Wirtschaft und den Ländereien. Carl Theodor sorgte auch dafür, dass heute in München Kunstschätze von unschätzbarem Wert liegen und von großer historischer Bedeutung.
Welche Bedeutung hatte Carl Theodor für einen neuen europäischen Zeitgeist vor gut 250 Jahren?
Graf: Er hat eigentlich schon ein europäisches Gemeinschaftsgefühl gelebt, während andere sich noch bekriegt haben. Gerade, was er für die Wissenschaft und Forschung getan hat, hat ganz Europa genutzt und geeint. Und ihm war wichtig, mit den anderen im Gespräch zu bleiben statt Auseinandersetzungen anzuzetteln.
Welche Frauen haben Carl Theodor besonders geprägt?
Graf: Zuallererst seine beiden Ehefrauen Elisabeth Auguste und im hohen Alter Maria Leopoldine. Beide haben ihn dominiert. Und beide haben ihn betrogen. Elisabeth Auguste hatte schon in der Verlobungszeit eine Liaison mit ihrem Schwager und auch danach immer wieder mit wechselnden Partnern. Da gibt es auch Schriftwechsel darüber. Und das war, noch bevor auch Carl Theodor Mätressen hatte. Aber eine Trennung wäre für ihn als guten Christen nie infrage gekommen. Einen Bruch in der eigentlich recht guten Beziehung zu Elisabeth Auguste hat es dann aber gegeben, als der Thronfolger kurz nach der Geburt gestorben ist. Das hat das Paar endgültig entzweit. Auch die zweite Ehefrau, die gerade mal 18-jährige Maria Leopoldine, die vom österreichischen Kaiser geradezu dazu gezwungen worden war, den alten Carl Theodor zu heiraten, machte aus ihren Liebschaften gar kein Geheimnis und hinterging ihn geradezu provozierend offen in München. Der Kaiser wollte sie sogar aus München abziehen, weil ihm das zu Ohren gekommen war, aber Carl Theodor wollte das nicht und stand auch zu dieser Ehe.
Aber selbst war er auch kein Waisenknabe in Sachen Treue. In Schwetzingen sagt man ja, dass in fast allen alteingesessenen Familien kurfürstliches Blut fließen könnte, was ist da dran?
Graf: Das ist nicht abwegig. Er hat wahrlich zahlreiche illegitime Kinder hinterlassen und da kennt man sicherlich nicht alle, die noch geheim gehalten wurden. Aber er hat für seine Mätressen und für deren Kinder, die ganz offensichtlich von ihm gezeugt worden waren, immer gut gesorgt, hat sie mit Ländereien und Titeln bedacht, sie gut verheiratet oder sie in Positionen gebracht, aus denen heraus sie selbst für sich sorgen konnten. Das war in der Kurpfalz so und auch in Kurbayern, wo es in ähnlicher Weise weiterging. Da sei nur an Maria Josepha Seyffert erinnert, die 16-jährige Tochter seines Kanzleisekretärs. Die beförderte er als eine „von Heydeck“ in den Adelsstand und machte sie sogar zur Gräfin. Sie schenkte ihm vier Kinder, drei Töchter und einen Sohn. Als Zeichen der Zugehörigkeit tragen alle Carl oder Caroline in ihren Namen und wuchsen gegenüber der Residenz in Mannheim auf und waren oft am Hof zu Gast, was Elisabeth Auguste, die ihm kein Kind mehr schenken konnte, natürlich demütigte.
Planen Sie weitere Bücher oder Filme über Carl Theodor?
Graf: Im Moment nicht, ich denke die Geschichte ist inzwischen gut erforscht und weitgehend auserzählt. Derzeit arbeite ich an einem Film über Maximilian Joseph, den ersten König von Bayern, der nächstes Jahr 200. Todestag hat.
Werden sich die Bayern noch mit Carl Theodor versöhnen, wenn sie Ihr Buch gelesen haben?
Graf: Beim Blick in die Historie sollte man nie den Blick von heute anwenden, sondern immer alles in seiner Zeit betrachten. Carl Theodor war ein guter Landesvater und in meinem Buch habe ich folgenden Schlusssatz aus der Trauerrede für ihn des Propstes von Ertl stehen, der das vorbildlich ausdrückt: „Carl Theodor, unser höchstseliger Landesvater entschlief und ging zu seinen Vätern. Segnen wir also aus kindlicher Dankbarkeit seine Asche, verbessern wir unsere Urteile, geben wir einer Kritik, die sich viel erlaubt, kein Gehör […]. Dies fordert der Geist unserer Religion; dies fordert das Gefühl der Dankbarkeit, dies fordert endlich die Ehrerbietung, die man den Großen auch nach dem Tode schuldig ist.“
Und was wollen Sie den Schwetzingern noch zurufen zum Geburtstag ihres Kurfürsten?
Graf: Seid stolz auf ihn, ihr habt den wohl schönsten Schlossgarten unserer Heimat. Ich liebe ihn sehr und besuche ihn gern. Vielleicht kann ich durch meine Filme und Bücher auch andere dazu animieren. Und noch etwas: Vergeblich suchte ich nach dem historischen Nachweis, dass Friedrich II. König in Preußen Carl Theodor als Glücksschwein und faulen Kerl bezeichnete. Prosit Carl Theodor.
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