Schwetzingen. Die Sache ist verteufelt modern. Ein Soundtrack zu einem Drama. Lange vor der Erfindung des Kinos wurde das Melodram erfunden. Bei den SWR Festspielen ist man ja geradezu versessen auf die Entdeckung des Neuen im Alten und so passt dieser Abend genau in die Schwetzinger Dramaturgie. Die Geschichte, die sich auf der Bühne des Rokokotheaters abspielt, ist bestens bekannt. Der Bildhauer Pygmalion ist ein begnadeter Künstler, der seine Statuen so lebensecht schafft, dass sogar er selbst be- und verzaubert wird von seiner schönsten Schöpfung.
Sie heißt Galathee und verdreht dem Künstler den Kopf, in dem sein Gedankenkino allerlei – nicht immer jugendfreie – Kapriolen schlägt. Zur Textfassung von Friedrich Wilhelm Gotter, der sich wiederum bei keinem Geringeren als bei dem angesagtesten französischen Philosophen der Zeit, Jean-Jacques Rousseau, bediente, schrieb Georg Anton Benda 1779 den Soundtrack. Der damalige Hofkapellmeister in Gotha schlägt auch heute noch das Publikum in seinen Bann. Denn das ist live dabei statt vor einer Leinwand.
Eine musikalische Entfesselung bei den SWR Festspielen in Schwetzingen
Diese Unmittelbarkeit ist auch nach 250 Jahren verblüffend. Auf einer Art Hochsitz thront zu Beginn der Schauspieler Michael Rothschopf in der Rolle des Pygmalion. Fast meint man, er selbst sei eine Art Skulptur – komplett weiß gekleidet wie geschminkt sitzt er regungslos da. Als dann La Stagione Frankfurt, eines der führenden Ensembles für alte Musik, auf der Bühne Bendas Musik zu entfesseln beginnt, erwacht die Figur, steigt langsam herab und spricht in den Orchesterklang hinein.
Bendas noch heute direkt ansprechende Musiksprache evoziert Gefühle von Träumerei und Trotz, von Trauer und Tollheit. Zwischen all diesen Gefühlen ist Pygmalion zerrissen und Michael Rotschopf rezitiert den Text nicht, sondern lebt ihn, kriecht und tanzt und lacht und schreit und räsoniert.
Michael Schneider am Pult von La Stagione setzt Bendas Musik kongenial um. Es ist eine Musik der Empfindsamkeit und des Sturms und Drangs gleichermaßen. Da schwirren die Geigen und die Hörner fahren dazwischen, dann betören die Holzbläser mit ihrem Schmelz, den urplötzlich das Orchester vehement durchbricht.
Nach der Pause in Schwetzingen erleben die Zuschauer ein völlig anderes Stück
Nach der Pause ein völlig anderes Stück, obwohl auch hier nur eine Person im Zentrum steht: Ino. In Georg Philipp Telemanns fast 40 Jahre früher entstandenen dramatischen Kantate flieht die junge Frau vor ihrem wahnsinnig gewordenen Ehemann Athamas, der droht sowohl sie als auch ihren Sohn zu töten. Verzweifelt stürzt sie sich von einer Klippe ins Meer. Neptun verwandelt sie zu einer Art Meernymphe. Telemann, damals schon über 80, komponierte etwas Faszinierendes. Eine Art Mini-Oper für Sopran und Orchester. Natürlich ist die Musiksprache die des Barock, doch der alte Meister erweist sich als ein stürmender und drängender Komponist.
Und die Sopranistin Ana Maria Labin als eine Sängerin, die die Gefühle der Frau in der Ausnahmesituation fesselnd umzusetzen vermag. Sie begeistert durch ihre absolute Textverständlichkeit – alles andere als eine Selbstverständlichkeit – und ihre Gestaltungskraft. Sie kann in ihre Stimme Wärme und Zärtlichkeit legen, wenn sie über ihren Sohn singt, aber auch Schärfe und Entschlossenheit im Moment der Entscheidung, sich in die Tiefe zu stürzen. Sie hat eine enorme Präsenz und gestaltet mit Blicken das Geschehen im Orchester mit. Der Abend war ganz sicher eine Sternstunde der Festspielsaison, das spürte das Publikum auch und bedankte sich mit einem stürmischen Applaus.
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Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kolumne Erste Ausrufezeichen bei den SWR Festspielen in Schwetzingen