Durch die klimatisierten Großraumbüros schwirren Gesprächsfetzen. „Wie stark sind Ihre Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn?“, „Haben Sie einen Ausschlag?“, „Ah, es geht um Ihre Tochter“, „Ist der Husten stärker geworden?“, „Haben Sie Diabetes?“ bis zu „Fahren Sie in die Notaufnahme, das ist das Schnellste, was Sie machen können.“
Knapp 60 Menschen sind hier in der Floßwörthstraße 57 in Neckarau beschäftigt. Nächstes Jahr sollen es mehr als doppelt so viele sein. „Wir suchen schon händeringend, aber das Problem ist der Fachkräftemangel“, sagt Geschäftsführer Daniel Herrmann. Wer für die 116 117 - gesprochen „elf sechs, elf sieben“ - arbeiten will, braucht eine medizinische Ausbildung, etwa als Krankenschwester oder Rettungssanitäter. „Medizinstudenten nehmen wir ab dem 2. Staatsexamen“, so Herrmann. Examinierte Altenpfleger und Zahnarzthelferinnen würden ebenfalls eingesetzt, allerdings nur zu Zeiten, in denen sie mit kundigeren Kollegen Rücksprache halten könnten.
Rund um die Uhr erreichbar
Hier in Mannheim werden Anrufe aus ganz Baden-Württemberg beantwortet. Eine ähnlich große Zentrale gibt es in Bruchsal. Die dritte im Land in Stuttgart ist mit knapp zehn Mitarbeitern deutlich kleiner. Das beliebte Klagelied, dass Nordbaden immer zu kurz komme, ist hier also ausnahmsweise nicht angebracht.
Wobei der häufigste Ratschlag - jedenfalls zu Praxiszeiten - lautet, sich an einen Hausarzt zu wenden. „Wir sind der Patientenservice der Kassenärztlichen Vereinigung, so funktioniert das System nun mal“, sagt Operations-Managerin Tina Stricker. Menschen, die keinen Hausarzt hätten, werde einer in ihrer Umgebung vermitteln. „Neulich hatten wir einen 82-Jährigen mit Corona, der war seit 70 Jahren nicht mehr beim Arzt“, erzählt Strickers Kollegin Cinzia Degel.
Das Virus sei seit zweieinhalb Jahren das mit Abstand häufigste Anliegen, berichten die Frauen. Viele Anrufer wollten PCR-Tests, doch auch da müsse man auf niedergelassene Ärzte oder das lokale Gesundheitsamt verweisen. Beratungen etwa zu Corona-Regeln könnten sie ebenfalls nicht leisten. Eines der kuriosesten Anliegen sei das von einer Frau frisch in Quarantäne gewesen: „Die wollte wissen, was sie jetzt nur den ganzen Tag machen solle.“ Antwort: „Vielleicht mal ein Buch lesen?“
Was ist, wenn man bei seinem Hausarzt - in der Pandemie keine Seltenheit - nicht durchkommt, weil ständig besetzt ist oder die entnervten Sprechstundenhilfen nicht rangehen? „Dann empfehlen wir Ihnen: Gehen Sie doch einfach in die Praxis“, meint Herrmann lächelnd.
Womöglich könnte nun der Eindruck entstehen, so wahnsinnig hilfreich sei die 116 117 gar nicht. Aber dem treten die Verantwortlichen mit guten Argumenten entgegen: Viele Anrufe gingen außerhalb der Praxiszeiten ein, sie jedoch seien 365 Tage im Jahr von 0 bis 24 Uhr erreichbar. Zudem handele es sich häufig um Notfälle, auch wenn für die nach der reinen Lehre die 112 zuständig sei. Oft riefen gerade ältere Menschen an, die sich den Ernst ihrer Situation nicht eingestehen wollten - etwa aus Angst vor dem Krankenhaus.
„Ein Drittel der Fälle endet damit, dass wir den Betroffenen einen Arztbesuch zu Hause vermitteln“, sagt Sticker. Mobilere Patienten würden in örtliche Notaufnahmen oder zu Bereitschaftsärzten geleitet. Rund 40 bis 50 Prozent der Anrufer hätten überdies einen Migrationshintergrund und kämen mit dem hiesigen Praxissystem nicht zurecht. Die „elf sechs, elf sieben“ vermittle auch Termine bei Fachärzten, aber nur mit Überweisung und Dringlichkeitsvermerk vom Hausarzt.
„90 bis 95 Prozent zufrieden“
Sticker und Degel schätzen, dass 90 bis 95 Prozent ihrer Anrufer mit den Auskünften zufrieden sind. „Das merkt man auch am Dank am Ende der Gespräche.“ Unmut gebe es indes immer wieder bei einigen, die nicht durchkämen, weiß Herrmann. Im Durchschnitt liege die Wartezeit zwar nur bei zwei bis vier Minuten. In Härtefällen könne es aber auch mal eine halbe Stunde werden. Vor allem samstagvormittags, wenn die Praxen geschlossen hätten „und vielen Menschen erst richtig auffällt, dass es ihnen nicht gut geht“. Umso wichtiger sei, möglichst bald mehr Personal zu finden.
Laura Lehrian arbeitet seit März für die 116 117. Eigentlich ist sie Krankenschwester, „und ich liebe diesen Beruf“. Doch die Bedingungen im Stationsalltag gefielen ihr mittlerweile weniger. Da mache der neue Job mehr Spaß. In ihrer Acht-Stunden-Schicht beantworte sie in der Regel rund 60 Anrufe. „Das sind schon viele, aber es geht noch.“ Für den Kopf sei das etwas anstrengender als ihre frühere Arbeit in einer Klinik. Dafür fühle sie sich abends körperlich weniger geschlaucht. Und schon geht erneut ihr Telefon.
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