Mannheim. Im September 2015 öffnete Deutschland seine Grenzen, hunderttausende Flüchtlinge wurden in jenem Jahr aufgenommen. Mannheim war eines der zentralen Drehkreuze in Baden-Württemberg, auch wegen seiner kurz zuvor erst freigewordenen US-Kasernen. Zeitweise lebten bis zu 15.000 Geflüchtete in der Stadt. Zehn Protagonisten von damals erzählen, wie sie diesen Herbst 2015 erlebt haben und wie er sich bis heute auf die Stadt auswirkt.
Peter Kurz, von 2007 bis 2023 Mannheimer Oberbürgermeister
„Es war eine außergewöhnliche Herausforderung, die wir – mit Hilfe vieler engagierter Menschen – bewältigen konnten. Für die Unterbringung der Geflüchteten im Herbst 2015 war zwar formal das Regierungspräsidium zuständig. Aber faktisch waren wir vor Ort – die Verwaltung, viele Organisationen von Feuerwehr über MWSP bis MVV und freie Träger wie das Rote Kreuz – sehr gefordert.
Neben den Betreuungs- und sozialen Bedarfen waren die logistischen Anforderungen enorm. Bund und Land hatten den Zustand der ehemaligen US-Kasernen viel zu positiv eingeschätzt. Das war aber eine Fehlannahme. Weder Wasserleitungen noch Heizung funktionierten.
Die eindrücklichste Erfahrung war sicher die Geschwindigkeit, in der alles realisiert werden musste. Und gleichzeitig die überwältigende Hilfsbereitschaft ganz vieler, die beigetragen haben, dass die Erstaufnahme gelungen ist.
Als Stadt Mannheim standen wir zudem vor dem Problem, dass das Land die früheren Kasernen Franklin und Spinelli für die Unterbringung der vielen ankommenden Geflüchteten auch dauerhaft belegen wollte. Dabei hatten wir ganz andere Pläne. Auf Franklin wollten wir einen neuen Stadtteil entwickeln. Für das Projekt hatten wir auch schon viele Investoren gefunden, was dazu geführt hat, dass das Land einwilligte, die Flächen nur temporär zu belegen.
Wir haben dem Land damals auch erklärt, dass wir eine zwar große Erstaufnahme gestalten können. Dass wir aber – auch wegen der damals schon starken Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien – keine Stadt für längerfristige Aufnahmen sein können, was das Land letztlich auch akzeptiert hat.
Bei der bundesweiten Bilanz sollten wir auch den Blick darauf richten, dass wir Potenziale für eine bessere Integration nicht genutzt haben. Es war und ist ein Fehler, den Weg für Geflüchtete zur Integration eher zu verstellen als zu befördern und Integrationsleistungen bei Geduldeten praktisch nicht zu belohnen.“
Thomas Köber, von 2014 bis 2019 Präsident des Polizeipräsidiums
„Viele der Flüchtlinge, die im Herbst 2015 in München ankamen, wurden in Zügen nach Mannheim gebracht. Von hier wurden sie dann mit Bussen in andere Aufnahmeeinrichtungen weiterverteilt. Unsere Aufgabe als Polizei war es, mit anderen aus der Blaulichtfamilie diese Verteilung umzusetzen und das Ganze in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken.
Jede Nacht kamen über Wochen Flüchtlinge am Hauptbahnhof an, das waren menschlich berührende Situationen. Manche waren total erschöpft. Gleichzeitig waren sie im für sie gelobten Land, wussten aber nicht, was jetzt passiert.
Die deutsche Verwaltung ist fast gescheitert an der großen Zahl von Menschen, es war eine extrem schwierige Situation. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wusste zum Teil nicht, wer ins Land kommt und wo die Menschen in Deutschland hingebracht wurden. Das Gute war, dass die Bevölkerung extrem zugewandt war und zum Beispiel Kleidung und Spielsachen gegeben hat.
Nach den Übergriffen in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln ist das Pendel dann in eine andere Richtung ausgeschlagen. Auch in Mannheim tauchten geflüchtete junge Männer in vergleichsweise hohem Anteil in der Kriminalstatistik auf, vor allem mit Diebstahl und Raub. Auch in den Unterkünften selbst ist es immer wieder zu Konflikten gekommen.
Nachdem im Heidelberger Patrick-Henry-Village die zentrale Landesaufnahmestelle eingerichtet worden war, waren in Mannheim wieder weniger Geflüchtete untergebracht und das Ganze für uns als Polizei gut zu bewältigen. Trotzdem war aus meiner Sicht die Flüchtlingswelle die Ursache, warum die AfD so stark geworden ist.“
Grünen-Stadtrat Gerhard Fontagnier, Organisation „Mannheim sagt Ja!“
„Nachdem wir im Januar 2015 mit einer der größten Demonstrationen der Mannheimer Nachkriegszeit einen Ableger der PEGIDA in Mannheim verhindert und in der Folge ,Mannheim sagt Ja!‘ gegründet hatten, wurden wir Teil einer Bewegung, die sich um Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Albanien gekümmert hat.
Wir haben ,Wir schaffen das!‘ wörtlich genommen. Anfangs war diese Hilfe unkoordiniert. Am 24. September 2015 haben wir deshalb in der Jungbuschhalle den 1. Mannheimer Flüchtlingsgipfel organisiert. Mehr als 400 Menschen und Dutzende Organisationen haben Angebote für Geflüchtete vorgestellt – es herrschte Aufbruchstimmung, an die sich noch viele erinnern.
In der Folge haben wir Aktionen und Aufklärung organisiert, um der damals schon aufkeimenden Stimmung gegen Migration und den tief sitzenden Rassismus etwas zu entgegnen. Vorurteile abbauen durch Kennenlernen wurde Teil unseres Engagements. Mit Besuchen des Christopher Street Days, von Waldhof-Spielen, Events in der SAP Arena oder mit den Kindern im Kinofilm „Shaun das Schaf“ haben wir Menschen, die wegen Krieg, Not und Hunger zu uns gekommen waren, Türen öffnen wollen. Ich erinnere mich ans MADIWO(MAnnheim-DIversity-WOrld)-Fußballcup, bei dem Mannschaften ein Turnier gespielt haben, die aus Spielern aus der Gesellschaft und Geflüchteten bestanden.
Der Herbst 2015 und die Folgezeit hat viele stolz auf unsere Stadt und ihre engagierten Herzensmenschen gemacht. Von alldem ist viel geblieben: Nicht nur wunderbare Erinnerungen und die Dankbarkeit der Geflüchteten, sondern auch Kontakte und Kooperationen. Viele Menschen haben gelernt: Es ist besser, etwas mit dem Herzen zu tun, als mit Hass zu vergiften. Es ist an der Zeit, den vielen Engagierten nach zehn Jahren offiziell Danke zu sagen.“
Samuel, der 2015 aus Nigeria geflohen ist
„Ich bin im November 2015 nach Deutschland gekommen. In Nigeria, wo ich herkomme, hat die Boko Haram mit Gewalt die Scharia einführen wollen. Über Italien kam ich nach Deutschland.
Die Stimmung gegenüber Flüchtlingen war sehr, sehr gut. Viele Menschen haben uns geholfen und uns begrüßt. Ungefähr seit 2020 ist die Stimmung aber eine Katastrophe. Ich habe eine Ausbildung gemacht und eine Arbeitsstelle gerfunden. Viele, die 2015 aus Afrika nach Deutschland gekommen sind, wollen arbeiten. Wir wollen Geld verdienen. Mehr Geld als der Staat uns gibt. Das ist unsere Motivation.
Aber die Behörden machen uns das Leben schwer. Menschen mit schwarzer Hautfarbe werden von der Polizei häufig kontrolliert. Obwohl wir nichts gemacht haben. Mir ist das auch schon passiert. Zum Glück gab es immer deutsche Zeugen, die gesagt haben, dass ich unschuldig bin.
In Mannheim gibt es viel Arbeit. Mannheim ist eine tolle und abwechslungsreiche Stadt – aber nur für Flüchtlinge, die nichts mit der Behörde zu tun haben müssen, weil sie einen dauerhaften Aufenthaltstitel haben. Die Ausländerbehörde ist kompliziert. Wenn man anruft, geht meistens niemand ran. Wenn man Anträge einreicht, dauert die Bearbeitung oft viel länger als ein Jahr. Freunde in anderen Städten – Heidelberg oder Karlsruhe – haben weniger Probleme mit Ausländerbehörden.
Wenn ich die Chance auf eine Wohnung habe, will ich weg aus Mannheim. Integration in Deutschland ist schwer. Freunde wurden abgeschoben, obwohl sie Arbeit haben. Manche wurden von der Arbeitsstelle abgeholt. Warum? Ich kenne Menschen, die nach Deutschland geflohen sind und hier eine Ausbildung gemacht haben. Sie sind nach Italien, Spanien oder Portugal ausgewandert, weil sie hier nicht dauerhaft bleiben dürfen. Wenn sie dort Zeugnisse von ihrer Ausbildung in Deutschland zeigen, sind sie willkommen. Dabei braucht Deutschland doch Arbeiter. Das verstehe ich nicht.“ (Anmerkung der Redaktion: Samuel möchte nur beim Vornamen genannt werden.)
Natice Orhan-Daibel, Bahnhofshelferin in Mannheim
Wenn ich an die Zeit zurückdenke, dann kann ich zum einen nicht glauben, was wir damals acht Monate lang Tag und Nacht geleistet haben, zum anderen muss ich sagen, dass es die beste Zeit meines Lebens war, was Ehrenamt angeht.
Wir haben so viele Menschen kennengelernt oder sie bei einem Halt am Bahnhof für wenige Minuten oder Stunden begleitet und unterstützt, weil es so dringend war. Wir waren eine sehr große Mannschaft mit Menschen unterschiedlichster Herkunft und Alter, die alle nur eins im Sinn hatten: zu helfen und zu gewährleisten, dass die Geflüchteten ohne Probleme ihre Weiterfahrt antreten konnten.
Es war eine harte Zeit, mit viel körperlicher Kraft verbunden, die bedeutete für mich zum Beispiel fast rund um die Uhr zu gewährleisten, dass neben den Bahnhofshelferzeiten am Abend und in der Nacht, genug Spenden gesammelt werden, damit wir alles am Bahnsteig haben. Nahrung, Kleidung, Hygieneartikel, Spielzeug, Schuhe und so weiter.
Auch seelisch war es nicht einfach, diese Zeit durchzustehen. Wir haben sehr viele schlimme Dinge von den Geflüchteten erfahren, wie etwa Schießereien oder bloße Gewalt an den Grenzübergängen, Tod und Verlust auf der Flucht und Sehnsucht nach den Familienangehörigen.
Aber ein Glück waren wir ein großes und starkes Team, es war immer jemand da, der einen auffangen konnte, wenn er Zeuge eines traumatischen Berichts wurde. Wir konnten uns jederzeit an jeden anlehnen und den Tränen freien Lauf lassen.
Zu dieser Zeit muss ich sagen, hatte ich wirklich jede Nacht sehr schöne, helle Träume, meistens träumte ich von der Südsee, es war immer warm und sehr hell. Genau der Gegensatz zum Hauptbahnhof eigentlich, wo es immer dunkel und kalt war. Diese Träume haben geendet, als unsere Arbeit am Bahnhof beendet war und sind nie wieder zurückgekommen.
Heute noch haben wir Bahnhofshelfer Kontakt miteinander, manchmal gibt es Bedürfnisse von Bedürftigen, bei denen wir wieder zusammenkommen, um zu helfen. Auch im „Kleinen“ erreichen mich und uns immer wieder Hilferufe, etwa nach Wohnungsausstattung, Schulmitteln oder bürokratischer Hilfe, dem ich und wir nachgehen.
Christian Specht, damals Kämmerer und heute Oberbürgermeister
„In Mannheim ist ab Herbst 2015 die Zahl der Geflüchteten immer steiler angestiegen. Darum haben wir damals sehr kurzfristig die Pläne für die Konversion der ehemaligen Militärflächen zurückgestellt und mit großem Kraftaufwand leerstehende Kasernen für die Erstaufnahme von Geflüchteten ertüchtigt. So konnten wir rund 15.000 Menschen vorübergehend aufnehmen und versorgen – Ende des Jahres 2015 war etwa ein Drittel aller rund 45.000 Geflüchteten in ganz Baden-Württemberg in Mannheim untergebracht.
Unser Ziel war es immer, möglichst niemanden in einer Sporthalle unterbringen zu müssen. Denn eine Notunterkunft mit wenig Privatsphäre erhöht das Konfliktpotenzial, erschwert die Integration und löst Akzeptanzschwierigkeiten bei der Bevölkerung aus, wenn die Halle nicht mehr für den Schul- und Vereinssport genutzt werden kann. Das ist uns weitestgehend gelungen – nur 2023 mussten wir für ein halbes Jahr die Lilli-Gräber-Halle für Geflüchtete nutzen.
In der Flüchtlingskrise hat die Stadtverwaltung bewiesen, dass sie selbst außergewöhnliche Krisensituationen schnell bewältigen kann. Unzählige Menschen aus Verwaltung, Hilfsorganisationen und Unternehmen haben in der Krise engagiert zusammengearbeitet, viele haben sich weit über die üblichen Arbeitszeiten und eng gefassten Zuständigkeiten hinaus eingesetzt. Auch die Bevölkerung hat große Hilfsbereitschaft gezeigt und sich eindrucksvoll für die Neuankömmlinge engagiert.
Dieses zivilgesellschaftliche Engagement hat mich sehr beeindruckt und es wirkt auch heute noch nach. Sobald die akute Krise bewältigt war, haben wir unser Augenmerk auf die Integration gerichtet. Diese große Daueraufgabe ist in Teilen gelungen, in anderen Teilen ist sie auch heute noch zu erfüllen. Unser Ziel ist es, in Zukunft noch mehr Menschen in Arbeit zu bringen und ihnen ein voll integriertes Leben in unserer Gesellschaft zu ermöglichen.“
Herwin Hadameck, Arbeiter-Samariter-Bund, Leiter Kleiderkammer Spinelli
„Es war eine tolle Zeit damals, ich denke gerne daran zurück. Die Hilfsbereitschaft war enorm. Wir haben viele Kleider-Spenden bekommen, die ganze Rettungswagenhalle war voll.
Zunächst wussten wir nicht, wohin damit. Aber dann kam der Anruf, dass auf Spinelli ein neues Lager entsteht. Ich bin dorthin, man hat mir einen kleinen Raum im Verwaltungsgebäude gezeigt - und ich habe gelacht und gesagt: Wir haben fünf Lkw-Ladungen voll. Dann bekamen wir Platz in der U-Halle.
Wir haben grob in Säcke vorsortiert - Pullover, Hosen, Kindersachen - und dann ausgegeben. Dabei galt das Motto: Frauen und Kinder zuerst. Es war ja Herbst, es war kalt, und viele Kinder waren barfuß. Das Erste, was ich ausgegeben habe, war ein roter Anorak mit weißen Punkten an ein Kind - das werde ich nie vergessen. Wenn man in die dankbaren Augen geschaut hat, diese Blicke, das vergisst man nicht, das hat uns alle immer wieder motiviert.
Am Anfang waren es ja katastrophale Zustände dort, mit der Zeit stabilisierte sich das. An Kleidungs-Nachschub hat es uns nie gefehlt, die Spendenbereitschaft war groß. Dabei hat mancher aber auch Müll entsorgt. Stöckelschuhe, einen Karate-Anzug - sowas, das können die Menschen dort ja nicht brauchen.
Insgesamt waren wir von Oktober 2015 bis etwa Mitte 2017 da. Anfangs lief das über ehrenamtliches Engagement, da hat uns das Feudenheimer Flüchtlingsforum sehr geholfen, dazu ASB-Mitglieder aus allen Bereichen. Zeitweise waren auch 15 Soldaten da. Es war mega, was die gewuppt haben. Mit der Zeit hat das ehrenamtliche Engagement nachgelassen, dann haben wir das aus dem Hauptamt und mit Bundesfreiwilligendienstleistenden gemacht. Ich habe wirklich tolle Erinnerungen und oft gedacht, wenn ich die Menschen dort gesehen habe: Dir geht es verdammt gut!“
Hussein, der 2015 aus Syrien geflohen ist
„Ich bin Mitte Oktober nach Mannheim gekommen. Mit meiner Frau und unserem Baby sind wir Tausende Kilometer gelaufen. In Ungarn sind wir nicht weitergekommen. Wir wollten nach Deutschland. Irgendwann ging es doch weiter.
Wir sind in Deutschland nett empfangen worden, haben viele Menschen getroffen, die uns geholfen haben. Meiner Frau ging es damals sehr schlecht. Die Flucht war anstrengend. Wir sind nach Mannheim gekommen, in eine Kaserne auf Spinelli. Die Organisation hat sehr gut funktioniert.
Wenn so viele Menschen auf kleinem Raum sind, gibt es aber auch Probleme. Ich habe mich auch ein- oder zweimal geprügelt. Es ging ums Essen. Heute kann man darüber lachen. Damals nicht. Alle waren genervt. Jeder wollten allein sein. Wir haben uns auch gelangweilt. Es hat Jahre gedauert, bis ich arbeiten durfte. Mein Deutsch war zu schlecht, hat man immer gesagt.
Deutsch ist schwer. Meine Frau kann bis heute fast kein Deutsch. Mein Sohn ist jetzt elf, geht in die Schule. Er kann übersetzen und hilft uns viel. Ich habe immer wieder Jobs. In Syrien bin ich Ingenieur gewesen.
In Deutschland ist es schwer, Arbeit zu finden, wenn man die Sprache nicht gut kann. Kurse brauchen Zeit. Ich habe Freunde, die über ihre Arbeit Deutsch schneller lernen. In Deutschland braucht man für alles Formulare und Bescheinigungen. Das dauert manchmal Wochen oder Monate. Trotzdem will ich bleiben. Mein Sohn ist hier Zuhause.“ (Anmerkung der Redaktion: Hussein will seinen richtigen Namen angesichts der derzeitigen politischen Diskussionen um die Zukunft syrischer Geflüchteter in Deutschland nicht öffentlich nennen.)
Eine Familie, die in der Nähe der Spinelli-Kaserne wohnt
„Wir haben damals noch gar nicht so lange in Feudenheim gewohnt, als die ersten Geflüchteten in den Panzerhallen von Spinelli untergebracht wurden. Ich weiß noch, wie bedrückend es war, als plötzlich so viele Menschen da waren, denen man einfach ansah, dass sie vor einem Krieg geflüchtet sind. Sie sahen so müde aus und haben so eine richtige Schwere mit sich getragen.
Dazu der beklemmende Anblick der Wachtürme und der alten Kaserne, die ringsum noch eingezäunt war. Da ist das Weltgeschehen plötzlich ganz nah an einen herangerückt.
Unsere Kinder waren damals noch klein, saßen oft am Küchenfenster, haben rausgeschaut und gar nicht richtig verstanden, wie es sein kann, dass man plötzlich kein Zuhause mehr hat. Es waren auch viele Familien dabei, deren Kinder mitten im Winter überhaupt nicht adäquat gekleidet waren. Darum hatten wir im Treppenhaus eine Kleiderkiste mit Kindersachen stehen, und sind dann rüber, um es zu verschenken, wenn wir so dünn angezogene Kinder gesehen haben.
Aber ein richtiger Kontakt zu den Menschen ist nicht entstanden. Am Anfang, so empfand ich das, wurden die Geflüchteten sehr offen willkommen geheißen. Viele hier in der Nachbarschaft haben sich organisiert und geholfen, etwa beim Kleiderausgeben.
In den Jahren darauf haben es Vereinzelte etwas zwiespältiger gesehen und sich an Themen wie den aufgestellten Flutlichtern oder Lüftungszeiten im Winter aufgehängt. Wie das die Stadt verändert hat, können wir gar nicht sagen. Mannheim ist ja immer schon eine sehr bunte und weltoffene Stadt. Auf Feudenheim selbst hat es eigentlich keinen Effekt gehabt.“ (Anmerkung der Redaktion: Die Familie wollte lieber anonym bleiben.)
Harald Leber, damals Leiter der Humboldt-Werkrealschule in der Neckarstadt
„Der starke Zuzug ab dem Jahr 2015 brachte vor allem Kinder und Jugendliche aus Syrien, Afghanistan und dem Irak an die Mannheimer Schulen. Besonders betroffen waren dabei die Grund- und Werkrealschulen. Dort mussten kurzfristig Vorbereitungsklassen (VKL) eingerichtet und geeignete Konzepte entwickelt werden, um diese Schülerinnen und Schüler zu unterrichten.
Die Zusammensetzung der Klassen stellte die Lehrkräfte vor große Herausforderungen: Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters – teils mit einem Altersunterschied von bis zu fünf Jahren – kamen aus verschiedenen Ländern, häufig sogar aus verfeindeten Regionen, und brachten unterschiedliche religiöse Hintergründe sowie sehr unterschiedliche schulische Vorkenntnisse mit. Zudem befanden sich unter ihnen auch durch Kriegserlebnisse traumatisierte Kinder.
Für neu eingestellte Kolleginnen und Kollegen ohne Erfahrung im Unterricht von VKL-Schülerinnen und -Schülern bedeutete dies eine besondere Herausforderung. Da viele Kinder in verschiedenen Unterkünften untergebracht waren, war es oft nicht möglich, sie wohnortnah einzuschulen – eine zusätzliche Belastung in einem ohnehin fremden Land, die auch von den besorgten Eltern nicht immer nachvollzogen werden konnte.
In der Neckarstadt war die Situation besonders angespannt. Mit der Öffnung des Arbeitsmarktes im Jahr 2014 kam es zu einem verstärkten Zuzug bulgarischer Sinti und Roma, was die ohnehin schwierige Unterrichtssituation zusätzlich verschärfte. Viele dieser Kinder und Jugendlichen verfügten nur über sehr geringe oder gar keine Schulerfahrung. In der Neckarstadt, aber auch in anderen Stadtteilen, wurde der Mangel an Klassenräumen zunehmend spürbar. Die Notwendigkeit, Ganztagsschulen von Klasse 1 bis 10 einzurichten – um mehr Lernzeit und zugleich ein warmes Mittagessen zu ermöglichen – wurde in dieser Zeit besonders deutlich.
Diese Jahre waren äußerst fordernd. Besonders negativ in Erinnerung geblieben ist mir jedoch, dass die politische Ebene die prekäre Lage nicht ausreichend erkannte. Der entstandene ‚Bildungsnotstand’ wirkte sich zwangsläufig auch auf die Regelklassen aus, da die maximale Verweildauer in den VKL nur zwei Jahre beträgt. In der Folge steigt bis heute die Zahl der Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Abschluss. Vor allem Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger ab etwa 13 Jahren haben in diesem System große Schwierigkeiten, einen erfolgreichen Schulabschluss zu erreichen.“
URL dieses Artikels:
https://www.schwetzinger-zeitung.de/orte/schwetzingen_artikel,-schwetzingen-fluechtlingsbewegung-2015-in-mannheim-beteiligte-erinnern-sich-_arid,2334981.html
Schwetzinger Zeitung Plus-Artikel Kommentar Mannheim und der Herbst 2015: Vieles geschafft, manches bleibt schwierig