Oftersheim. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Naziregimes liegt nicht nur Deutschland, sondern fast ganz Europa in Trümmern. Menschen werden aus den vormals deutschen Gebieten im heutigen Ungarn, Tschechien und Polen vertrieben und suchen eine neue Bleibe. Dies jährt sich dieser Tage zum 80. Mal.
Es waren Kinder, ihre Eltern und Großeltern – vorwiegend aus dem Böhmerwald, aus Ostpreußen, Pommern, Ungarn und Schlesien – die auch in Oftersheim eine neue Heimat fanden. Sie sind in der Hardtwaldsiedlung untergekommen. Wir haben mit zwei Zeitzeugen gesprochen, einem Geschwisterpaar.
Edith Uhrig, geborene Deinert, kam Ende 1939 in Danzig zur Welt. Genauer gesagt etwas außerhalb von Danzig, in Ohra, das heute zu Polen gehört und Orunia heißt. Nach dem Überfall auf Polen wurde die Freie Stadt Danzig am 1. September 1939 völkerrechtswidrig in das Deutsche Reich eingegliedert. Bruder Wolfgang wurde dort gute zwei Jahre später, 1942, geboren.
Im März 1945 wurde Danzig, das heutige Gdansk, von der Roten Armee erobert und erlitt schwere Zerstörungen. Die Stadt wurde bombardiert und beschossen, die Innenstadt brannte nieder und es kam zu Plünderungen, Vergewaltigungen und der Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Doch Deinerts hatten Glück - vorerst. Die kleine Edith und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Wolfgang lebten zusammen mit ihrer Mutter, deren Schwester, der Oma sowie dem verwundeten Bruder der Oma in einer kleinen Wohnung. Die Männer der beiden Schwestern waren im Krieg, die kleinen Geschwister kannten ihren Vater nur von Fotos und Erzählungen der Mutter.
„Zuerst kamen die Russen, dann die Polen“, erzählt Edith Uhrig. Im Mai 1945 mussten sie Hals-über-Kopf ihr Zuhause verlassen. „Raus, alle raus, schrien die polnischen Soldaten, als wir aus unseren Wohnungen geworfen wurden.“ Jedes der Kinder bekam einen kleinen Rucksack mit dem Allernötigsten zum Anziehen auf den Rücken. Mehr nicht. Sie wurden bis zum nächsten Bahnhof gejagt und in einen Viehwaggon verfrachtet. „Wer sich nicht schnell genug bewegt hat, bekam den Gewehrkolben übergezogen“, so die 86-Jährige. „Wir standen eng gedrängt in dem Waggon, auf dem Boden stinkendes Stroh von den Tieren, die vorher darin waren.“
Als der Zug plötzlich anhielt, wusste keiner, wo sie waren. Wie auch, der Wagen hatte keine Fenster. „Unsere Mutter hatte große Angst, uns zu verlieren. Der kleine Wolfgang ist immer mal wieder verschwunden in dem ganzen Trubel.“ Sie kamen in ein Auffanglager. Bis es wieder weiterging und sie in den nächsten Waggon gepfercht wurden. „Es ging da drunter und drüber, wir hatten immer Hunger und wussten nicht, wie es weitergeht. Zum Essen gab es im Lager fast jeden Tag gekochte Kartoffelschalen. Wolfgang hat schlimmen Durchfall davon bekommen.“ Dem Zweijährigen ist das nicht gut bekommen. Die Geschwister sind sich einig, dass alles besser war, als zu verhungern.
„Die Menschen vor Ort hatten ja selbst nichts, da haben wir genommen, was wir konnten.“ Die Fahrt ging mit Unterbrechungen in mehreren Lagern die ganze Ostsee in westlicher Richtung entlang bis nach Kiel. Dort ist das kleine Trüppchen nach einem halben Jahr im November endlich angekommen. Sie kamen in das ehemalige Soldatenlager Julienlust im Ortsteil Hasseldieksdamm. In einer der Holzbaracken hatten sie ein etwa neun Quadratmeter großes Zimmer. Zu sechst. Die Kinder, Mutter und ihre Schwester, Oma und Großonkel Marian mit dem kaputten Arm. Es gab zwei Etagenbetten und ein Einzelbett, ein Regal und einen kleinen Schrank, einen kleinen Holzofen, kein fließendes Wasser. Die Toilettenbaracke war etwa 100 Meter entfernt über einer Grube. In Julienlust lebte Familie Deinert acht Jahre lang. „Für uns Kinder war das schön dort“, sagt Wolfgang Deinert. „Wir konnten draußen sein, in der Nähe war ein Wald, Kinder waren immer genug da zum spielen“, berichtet er. Seine Schwester ergänzt: „Wir kannten es ja nicht anders, das hat für uns völlig ausgereicht.“
Mit sieben kam Edith in die Schule, die war im Lager, ab Klasse zwei ging sie in die neue Gorch-Fock-Schule in Kiel. Dafür sind die Kinder morgens etwa zwei Kilometer durch zwei Wäldchen gegangen - mussten aber einen recht tiefen wassergefüllten Graben überwinden. Wollte man nicht nass werden, dann musste man einen großen Umweg bis zur Steinbrücke in Kauf nehmen und brauchte dementsprechend länger. Im Winter kam dann der Vater aus der französischen Gefangenschaft zurück. „Sehr abgemagert sah er aus und Zähne hatte er fast keine mehr, aber er hat überlebt“, erzählt Edith Uhrig.
Er habe Glück gehabt. Weil er so gut zeichnen konnte, war er beliebt bei den französischen Offizieren und bekam Aufträge, für deren Kinder Bilder zu malen. Er konnte ebenfalls sehr gut Mandoline spielen und unterhielt damit an Abenden die Soldaten. So sei er gut durch die Gefangenschaft gekommen. „Zuhause hat er sich dann um uns gekümmert, wir haben viel musiziert und gesungen. Zu Weihnachten hat er für uns aus einem Besenstiel und Tannenzweigen einen Weihnachtsbaum gebastelt. Er war sehr erfinderisch“, lacht Edith Uhrig. Nach und nach seien die Menschen aus dem Barackenlager weggezogen, zu Verwandten oder ins Unbekannte.
„Unsere Tante Hanna und ihr aus russischer Gefangenschaft heimgekehrter Mann sind nach Freiburg gebracht worden - wir dachten, wir kommen vielleicht auch dorthin.“ Sie stellten also einen Antrag und saßen erneut - nur diesmal mitsamt dem Vater - im Zug. Bloß hielt der nicht in Freiburg, sondern in Oftersheim. „Alle raus“ wurde - wieder einmal - gebrüllt. Und dann standen sie da. Mit einem Koffer und ein paar Rucksäcken wie schon acht Jahre zuvor - nur diesmal am Bahnhof Oftersheim.
Es war August 1952, vom den Gleisen wurden sie in Richtung Mannheimer Straße geführt. „Der ganze Tross ist dann im Hirsch gelandet und dort stand Bürgermeister Adolf Kircher und begrüßte die Flüchtlinge. Uns wurden dann Wohnungen zugeteilt, die meisten sind in der Siedlung untergekommen.“ Die war neu entstanden und sah noch etwas anders aus als heute (wir berichteten). Familie Deinert kam in der Jahnstraße bei Familie Kurz im ersten Obergeschoss in einer Zwei-Zimmerwohnung ohne Bad unter. Allerdings konnten sie nur das eine Zimmer bewohnen, weil im anderen noch zwei von Kurz‘ens Kinder untergebracht waren. „Aber das war kein Problem, wir waren ja wenig Platz gewohnt“, sagt Edith Deinert bescheiden. Sie zahlten etwa 40 Mark Miete, ganz genau können sich die Geschwister nicht mehr erinnern.
Familie Kurz hatte das Haus zu einem geringen Preis und günstigen Zins erwerben können – mit der Maßgabe, zehn Jahre lang Flüchtlinge darin aufzunehmen. Bei ihnen blieben die Deinerts nicht lange, sie zogen um zur Familie Werner in die Walldorfer Straße. Als deren Tochter Gisela heiraten wollte, mussten sie erneut umziehen.
Edith Deinert hat früh geheiratet, mit 17 Jahren. Nach der Hochzeit 1957 wohnte sie mit ihrem Mann Edgar, einem Oftersheimer, zur Miete in der Königsberger Straße, weil im Elternhaus ihres Mannes in der Bürgermeister-Kircher-Straße noch Flüchtlinge wohnten. Sie arbeitete in einer Strickerei als Näherin in der Firma Stoll. Auch ihr Bruder Wolfgang blieb zu Hause bis zur Hochzeit und auch er heiratete eine Oftersheimerin, die Bauerntochter Gisela Mergenthaler. „Erst mit der Heirat sind wir hier so richtig ,angekommen‘ und aufgenommen worden“, erzählt Wolfgang Deinert. Wenn sich die beiden an ihre Ankunftszeit erinnern, war die nicht immer einfach. „Wir sprachen ja hochdeutsch - da war es für uns anfangs schwer, die Oftersheimer richtig zu verstehen.“ Wolfgang berichtet auch von Hänseleien. „Immer, wenn jemand ‚Flüchtling‘ rief, tat das schon ein bisschen weh. Auch Schikanen, wie in den Keller gesperrt werden, kamen immer wieder mal vor. Aber ich konnte mich wehren. Und zum Glück war ich sehr sportlich. Als Leistungssportler war ich schnell integriert. Mein Leichtathletiktrainer war Siegwald Kehder“, berichtet Wolfgang Deinert.
Die beiden schwelgen in vielen Erinnerungen beim Betrachten des gut gefüllten Fotoalbums. Eine echte Reise in die Vergangenheit hat Edith Uhrig mit ihren beiden Töchtern 2007 unternommen. Dort hat sie sich in Danzig auf Spurensuche begeben und nach den Plätzen ihrer Kindheit gesucht. „Besonders schön war es Strand von Sopot, da waren wir schon als Kinder gerne am Strand.“
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