Schwetzingen. „Glaubt mir, ich bin genauso verwirrt wie ihr. Was machen Sie hier?“ Eine berechtigte Frage der Lehrerin Julia Keller. Immerhin stand zur ersten Stunde ein fremder Mann mitten im Unterrichtszimmer der 2. Klasse der Nordstadtgrundschule in Schwetzingen. Und der sieht so gar nicht unterrichtstauglich aus: lange, verwilderte graue Haare liegen über seinen eingezogenen Schulterblättern wie ein nasses Handtuch. Mütze und Bart teilen sich mit den Haaren den gleichen, verbraucht wirkenden Farbton. Die braune Stoffhose des Mannes scheint ihm offensichtlich nicht zu passen. Und der Ausschnitt seines fleckigen Shirts endet weit unter seiner Brust. Einen Einkaufswagen, voll mit Tüten, hat er bei sich.
Auf einer Wäscheleine, die er an der Tafel befestigte, hängen Klamotten, die mehr nach nach alten Putzlappen aussehen. Ohne sich vorzustellen, flüstert der Fremde etwas in Kellers Ohr. „Er will eine Geschichte erzählen. Hört ganz genau zu, was er zu sagen hat“, vermittelt die Lehrerin an ihre Schüler.
Seit zehn Jahren führt das Theater am Puls aus Schwetzingen Stücke an Grundschulen auf
Zehn Jahre lang hat das Theater am Puls (TaP) jedes Jahr das Stück „Johnny Hübner greift ein“ in den Klassenzimmern der kurpfälzer Grundschulen vorgeführt. Finanziert wird dieses Projekt – bei dem die 2. Klassen der vier Grundschulen eine eigene Vorstellung während der Schulzeit genießen dürfen – im Sinne der Theaterpädagogik von der Stadt Schwetzingen. In zahlreichen Vorstellungen spielte sich der Hauptdarsteller Daniele Veterale direkt in die Herzen der jungen Zuschauer. Nun musste die Kulturstädte den beliebten Kollegen verabschieden, bestätigt Joerg Steve Mohr, Intendant des Theaters am Puls: „Mittlerweile ist Daniele Veterale am Landestheater. Zum Glück übernimmt der Schauspieler Christoph Kaiser unser Klassenzimmerstück-Projekt.“
Ein neuer Hauptdarsteller braucht natürlich auch ein eigenes Drehbuch. „Wir haben das Bilderbuch ’Ein mittelschönes Leben’ zu diesem Zweck umgeschrieben“, erzählt Mohr. Dass die Formulierung des Theaterpädagogen untertrieben ist, wird bei Betrachtung des besagten Kinderbuchs klar. Dieses ist nämlich innerhalb weniger Minuten durchblättert, während das Klassenzimmerstück ganze 35 Minuten umfasst und zahlreiche, von den Künstlern selbst beigefügte, Dialoge beinhaltet. Nicht nur das, die Schauspieler fügten sogar eine ganz neue Rolle hinzu – ein Waschbär, der einzige Freund des Protagonisten.
„Warum ist hier Wäsche aufgehängt?“, „Was zur Hölle passiert hier?“ und „Wer ist das?“ sind nur einige von vielen Fragen der verwirrten Kinder. Die wussten nämlich gar nichts von der Ehre in ihrem Unterrichtsraum die Premiere des neuen Klassenzimmerstücks zu beheimaten. Unbeirrt beginnt Schauspieler Christoph Kaiser in der Rolle des ungepflegten Fremden: „Hat jemand ein Pausenbrot dabei und möchte bitte mit mir teilen?“ Mit einem Schnitzmesser viertelt er einen Apfel, den der Mann aus einer braun angelaufenen Metalldose holt. „Ich war auch mal ein Kind“, erzählt er, während sich der Protagonist hinter die die aufgehängte Wäsche bewegt.
Puppen und Zeitsprünge: Kreative Stilmittel beim Stück in Schwetzingen
Kinderstimmen erklingen und der Schauspieler führt kleine Puppen über die Wäscheleine, passend zur Konversation aus den Boxen. Auf diese Weise veranschaulicht das Team einen Zeitsprung in die Schulzeit des Protagonisten, der auf den Namen Paul hört. Erst erfahren die Schüler von Pauls bestem Freund aus der Schulzeit, mit dem er keinen Kontakt mehr hat. Dann von seiner Jugendliebe Jasmin, zu der Paul mittlerweile auch keinen Kontakt mehr habe.
Immer wieder wechselt der Schauspieler zwischen den Formaten. Er erzählt vor der Klasse von seiner Geschichte. Dann, als Puppentheater wieder von der Vergangenheit. Die Übergänge zwischen den Wechseln gestaltet er mit kreativen und durchdachten Wendungen in der Geschichte des Protagonisten.
Paul habe nach der Schule eine Ausbildung gemacht, in der Disco seine spätere Frau kennengelernt und sich verliebt. Geheiratet, zwei Kinder gezeugt und zusammengezogen – was sich anhört wie die herkömmliche Familiengründung junger Erwachsenen, entwickelte sich aber zu einem Alptraum. Den Job verloren, Scheidung und der Umzug in eine fremde Stadt folgen, immer perfekt mit Puppen oder anderen schauspielerischen Kniffs visualisiert.
Klassenzimmerstück in Schwetzingen: Waschbär als imaginärer Freund
Als der Protagonisten seinen neuen Job in der neuen Stadt verliert, muss er auch die Wohnung räumen. Im Sommer schläft er im Park, wo er seinen einzigen Freund kennenlernt – ein Waschbär, den es im Original übrigens gar nicht gibt. Seine Kinder distanzieren sich, wegen der Obdachlosigkeit findet Paul keinen Job, wegen der Arbeitslosigkeit keine Wohnung. Die Spirale dreht sich weiter. „Ich hoffe, meine Kinder sehen mich so nicht. Obwohl, mittlerweile würden sie ihren Papa sicher nicht mal mehr erkennen“, sagt Paul, worauf ein Schlucken im jungen Publikum zu vernehmen ist.
„Übrigens ist das nicht meine eigene Geschichte“, Paul zieht die Mütze und Perücke ab und wird langsam wieder zu Christoph Kaiser. „Es ist die Geschichte von vielen Menschen, die sich hier nicht hertrauen“, beendet der Schauspieler vor jubelnden Zuhörern.
Von der Geschichte könne man viel lernen, weiß die siebenjährige Lyna: „Deswegen fand ich es wirklich schön.“ Lenni achtete nicht so sehr auf den Lernfaktor. „Das war voll spannend“, fand der Achtjährige. „Uns ist es wichtig, das Stück danach mit den Kindern durchzugehen. Da haben wir gemerkt, dass sie die Pointe verstanden haben“, bestätigt der Theaterintendant. Besonders dankbar sei er der Ausstatterin Karoline Luise Saal, die auch für die Puppen zuständig war. „Wir wollten die Kinder für das Schicksal anderer sensibilisieren. Das hat super geklappt“, sagt Mohr.
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