Stuttgart. Über seine Rolle ist im Netz vielfach spekuliert worden. Am 31. Mai 2024 rannte Thomas Schmitt (Name von der Redaktion geändert) an der Straßenbahnhaltestelle am Marktplatz los und stürzte sich ins Chaos des Messerattentats.
Der Messerangreifer vom Mannheimer Marktplatz hatte da bereits mehrere Menschen verletzt, darunter den bekannten Islamkritiker Michael Stürzenberger. Yussuf Kazem, der eigentlich anders heißt, hielt in diesen Sekunden den Messerattentäter fest. Ein zweiter Mann half ihm, den Angreifer zu fixieren. Doch dann griff Schmitt ein – und schlug zu. Seine Hiebe trafen Kazem am Kopf. Einmal, ein zweites Mal und noch einmal. Kazem ließ den Angreifer los, der zweite Mann konnte ihn allein nicht halten. Der Attentäter kam frei und ging auf den Polizisten Rouven Laur los.
Anfang April sollte Schmitt im Prozess um das Messerattentat vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim seine Aussage machen. Er sollte beschreiben, was er am 31. Mai 2024 beobachtet hatte und etwas dazu sagen, warum er losrannte. Und wie es dazu kam, dass er auf den Falschen einschlug. Vielleicht auch dazu, warum er eine blaue Jacke trug, die den Westen der „Bürgerbewegung Pax Europa“ zum Verwechseln ähnelte, obwohl er kein Mitglied des rechtspopulistischen Vereins ist.
Doch der Zeugenstand blieb leer.
„Es ist schwer, damit zurechtzukommen, dass es nicht besser geworden ist, als ich helfen wollte.“
Kurz nach der Tat sagte Schmitt nach Informationen dieser Redaktion bei seiner Vernehmung durch die Polizei, er habe an der Haltestelle auf die Bahn gewartet und plötzlich Lärm gehört. Dann habe er einen Mann mit Vollbart gesehen, der „wie verrückt“ auf einen Mann einstach. Schmitt sagte den Beamten, er habe das, was passierte, als „Terroranschlag“ eingeordnet und sei zu dem Angreifer mit dem Messer gerannt, habe ihn mit der Faust geboxt. Danach sei er selbst für einen Täter gehalten und von den Beamten zu Boden gebracht worden. Nachdem er einen Schuss gehört hatte, habe er das Messer des Angreifers zu fassen bekommen und zu den Polizeibeamten geschoben.
„Es ist schwer, damit zurechtzukommen, dass es nicht besser geworden ist, als ich helfen wollte“, sagte Schmitt kurz vor Prozessbeginn während eines Interviews mit dem „Südwestrundfunk“ auf dem Mannheimer Marktplatz.
Doch warum erschien Schmitt nicht vor Gericht? Anfang April sagte der Vorsitzende des Staatsschutzsenats, Herbert Anderer, dem Mann stehe ein gesetzlich bestellter Betreuer zur Seite – offenbar aufgrund einer psychischen Erkrankung. Und für seine Vernehmung solle er einen Zeugenbeistand bekommen, einen Anwalt, der ihn beraten und unterstützen solle. Deshalb habe der Senat den zunächst anvisierten Termin für die Zeugenvernehmung abgesagt.
Dann, nach der Osterpause, die Überraschung: Schmitt soll auf einmal gar nicht mehr als Zeuge geladen werden. Über seine Anwältin habe er mitgeteilt, dass er von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen wolle.
Dies ist möglich, wenn ein Zeuge durch seine Aussage Gefahr läuft, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit selbst verfolgt zu werden.
Mannheimer Staatsanwaltschaft leitete kein Ermittlungsverfahren gegen Passanten bem Messerangriff ein
Auf Anfrage dieser Redaktion teilte eine Sprecherin der Mannheimer Staatsanwaltschaft mit, dass nach dem Messerangriff geprüft worden sei, ob ein Ermittlungsverfahren gegen „eine männliche Person, welche in das Geschehen eingriff“, einzuleiten sei. Dies sei verneint worden.
Und doch will Schmitt nun von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machen. Aber ein pauschales Schweigerecht – das wollten Nebenkläger und Verteidiger nicht einfach so stehen lassen.
Der Anwalt der Schwestern von Rouven Laur, Wolfram Schädler, stellte einen Beweisantrag, in dem er auf mehreren Seiten ausführte, warum Schmitt wichtig ist. „Die Aussage des Zeugen ist für die umfassende Aufklärung des Tatgeschehens von erheblicher Bedeutung, insbesondere im Hinblick auf die konkrete Verhaltensweise, Wahrnehmung und Motivation des Zeugen im unmittelbaren Vorfeld der tödlichen Messerattacke“, sagte Schädler. Die Umstände, seine Beobachtungen – dies seien keine Aussagen, mit denen er sich selbst belasten würde. Dazu müsse der Zeuge aussagen, so Schädler. „Eine umfassende Verweigerung der Aussage zu diesen Bereichen würde die Aufklärungspflicht des Gerichts verletzen.“
Ich finde es erstaunlich und bemerkenswert, dass die Bundesanwaltschaft ihren eigenen Zeugen entwertet
Und dann folgte Anfang Mai, am 14. Prozesstag, die nächste Überraschung: Die Bundesanwaltschaft, die Anklagebehörde, versuchte Schädlers Argumentation zu entkräften und sprach sich dafür aus, dass Schmitt nicht vor Gericht erscheinen muss. Im Fall einer Aussage bestünde die Gefahr einer Strafverfolgung, sagte die Bundesanwältin.
Anfang April, als ein anderer Zeuge von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch machte, hatte die Bundesanwältin noch versucht, dies zu verhindern. Damals ging es um den Kameramann, der das Video von der Tat gefertigt hatte, das um die Welt ging. Er soll nach der Tat den angeschossenen Angeklagten getreten und die Ersthelfer aufgefordert haben, ihn sterben zu lassen. Der Senat entschied: Der Kameramann darf sich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berufen – entgegen der Argumentation der Bundesanwaltschaft, die im Fall des Passanten nun vollkommen anders agierte.
„Ich finde es erstaunlich und bemerkenswert, dass die Bundesanwaltschaft ihren eigenen Zeugen entwertet, ohne, dass irgendetwas passiert ist“, sagte Schädler. Insbesondere deshalb, weil die Bundesanwältin in den Akten zunächst selbst noch die Frage aufgeworfen habe, ob Schmitt vielleicht sogar Beschuldigter in dem Verfahren sein könne.
Tatsächlich ist in den vergangenen Wochen durchaus etwas passiert. Kurz vor der Osterpause veröffentlichte das ZDF eine Recherche, die Wellen schlug. Demnach soll es in Russland schon Tage vor dem Mannheimer Messerattentat auffällige Suchanfragen im Internet gegeben haben. Ein Datenprofiler fand im Auftrag des Senders heraus: Rund einen Monat vor der Tat sollen Personen im Netz nach einem „Terroranschlag in Mannheim“ gesucht haben. Außerdem verzeichnete Google russische Suchanfragen nach „Anschlag in Deutschland“, „Michael Stürzenberger Anschlag“ oder „Michael Stürzenberger erstochen“.
Unwillkürlich drängte sich neue Fragen auf: Könnte der Angeklagte Sulaiman A. gezielt von außen beeinflusst worden sein – möglicherweise aus Russland? Und weiter: Was bedeutet das für das laufende Verfahren? Könnte es Nachermittlungen der Bundesanwaltschaft geben, vielleicht auch zu Thomas Schmitt? Muss seine Rolle neu beleuchtet werden? Eine Sprecherin des Generalbundesanwalts wollte sich dazu Anfang April nicht äußern.
Etwa zur gleichen Zeit sollten das Landeskriminalamt und der Bundesnachrichtendienst (BND) dem Staatsschutzsenat sämtliche Erkenntnisse, die den Behörden zu möglichen Spuren nach Russland vorlagen, offenlegen.
Entscheidung des Senats zur Zeugenaussage steht noch aus
Die Ergebnisse seiner Datenauswertung seien „sehr ungewöhnlich“ und würden eine „gewisse Auffälligkeit“ zeigen, sagte der Experte, der für das ZDF die Daten ausgewertet hatte, dieser Redaktion. „Das alles sind Hinweise, aber keine Beweise. Die Hinweise müssen erst auf ihre Validität überprüft werden.“
Inzwischen ist bekanntgeworden: Die Sicherheitsbehörden halten die Daten für „nicht valide“, dies teilte der Vorsitzende Richter Anderer knapp mit.
Im nächsten Schritt muss der Senat um Anderer nun entscheiden, ob er an seiner Entscheidung zu Thomas Schmitt festhält. In diesem Fall, und er gilt als äußerst wahrscheinlich, würde die Rolle des Passanten, der massiv in das Tatgeschehen eingriff, vor Gericht tatsächlich nicht aufgearbeitet werden.
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