Stuttgart. Wer das Video gesehen hat, das am 31. Mai 2024 zigfach in den sozialen Medien angesehen und geteilt wurde, wird es wahrscheinlich nie vergessen. Die Schreie und das Blut. Der Moment, in dem der Mannheimer Messerangreifer hinterrücks auf den Polizisten Rouven Laur losgeht.
Neben dem Grauen sind auf dem Video auch Menschen zu sehen, die im Angesicht des Horrors zu Heldinnen und Helden geworden sind. Ihre Geschichten sind bislang nicht erzählt worden.
Emotionale Aussage am Oberlandesgericht in Stuttgart
Da sind zwei Ärztinnen und ein Arzt des Mannheimer Gesundheitsamtes, die den Schuss hörten und sofort losrannten, um die Verletzten zu versorgen. Ohne genau zu wissen, was passiert war, wer Täter und wer Opfer waren – und ob weitere Gefahr drohte. Oder eine Krankenpflegerin, die gerade auf dem Marktplatz stand, als der Angriff begann und die danach „von Blutbad zu Blutbad“ rannte, um die Blutungen der verwundeten Menschen zu stillen, so hat sie es später erzählt.
Auch Yussuf Kazem (Name von der Redaktion geändert) gehört zu diesen stillen Helden. Im Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter hat er berichtet, wie er am 31. Mai 2024 mit dem Zug nach Mannheim fuhr, weil er in einer Schneiderei in der Nähe des Marktplatzes seinen Anzug abändern lassen wollte, für eine Kommunion am darauffolgenden Sonntag.
Auf dem Weg dorthin habe er bemerkt, dass der Islamkritiker Michael Stürzenberger auf dem Marktplatz gewesen sei. Das habe ihn, einen aramäischen Christen aus dem Irak, gefreut, kannte er Stürzenberger und seine „Bürgerbewegung Pax Europa“ (BPE) doch aus den sozialen Medien, sagte er.
Vor über 20 Jahren floh er aus dem Irak nach Deutschland, wo er als Christ nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein um sein Leben fürchtete. Was in seiner Heimat passierte, habe sein Misstrauen gegenüber Muslimen geschürt, sagte er vor Gericht.
Dann rief ich: oh Allah, oh Jesus – und bin gerannt
Nach dem Besuch beim Schneider sei er auf den Marktplatz zurückgekehrt, wo er den Beginn der Veranstaltung der BPE abwarten wollte.
Da sei ihm ein Mann aufgefallen, der um den Stand herumschlich. Und dann sei dieser losgerannt und habe ein Messer gezogen. „Ich habe gesehen, wie Michael Stürzenberger zu Boden ging und wie er seine Augen auf mich richtete.“
In seinem Herzen habe er „gespürt“, dass er helfen müsse. Er dachte an seine Familie, an seine Frau und an seinen Sohn. „Dann rief ich: oh Allah, oh Jesus – und bin gerannt.“
Er erzählte, wie er den Angreifer zu fassen bekam und ihn festhielt. Und wischte sich dabei die Tränen aus den Augen, Schluchzer schüttelten ihn.
Ein zweiter Mann kam hinzu und half ihm, den Angreifer zu fixieren. Doch dann passierte etwas. Schläge prasselten auf Kazem ein. Später erfuhr er: Ein Passant kam auf ihn zugerannt, schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Ein weiteres Mal, und nochmal. Mit fatalen Folgen: Kazem konnte den Messerangreifer nicht länger festhalten, der konnte sich befreien. Sekunden später stach dieser auf Rouven Laur ein, der auf dem Passanten kniete, der Kazem geschlagen hatte.
„Es hätte nicht so kommen sollen, der Polizist hätte nicht sterben sollen“
Anfang April, eine Woche nach seiner Aussage vor Gericht, ist Yussuf Kazem wieder am Oberlandesgericht in Stuttgart-Stammheim, wo sich der mutmaßliche Täter Sulaiman A. wegen Mordes, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung vor dem Staatsschutzsenat verantworten muss. Kazem erhofft sich Antworten. „Ich will wissen, warum der Mann mich geschlagen hat“, sagt er im Gespräch mit dieser Redaktion. „Es hätte nicht so kommen sollen, der Polizist hätte nicht sterben sollen.“
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Die Bundesanwaltschaft geht laut Anklage von einer Verwechslung, einer fatalen Fehleinschätzung des Passanten aus, der auf Kazem eingeschlagen haben soll, weil er ihn für einen Angreifer hielt.
Doch der Vorsitzende des Senats teilt an diesem Verhandlungstag mit: Der Zeuge wurde kurzfristig abgeladen. Dem Mann stehe ein gesetzlich bestellter Betreuer zur Seite – offenbar aufgrund einer psychischen Erkrankung. Und für die Vernehmung soll er einen Zeugenbeistand bekommen, einen Anwalt, der ihn berät und unterstützt.
Beim Mannheimer Messerangriff körperliche und seelische Verletzungen davongetragen
Vor dem Gerichtsgebäude erzählt Kazem, dass der 31. Mai 2024 ihn bis heute quält. Insbesondere in diesen Tagen. Der Prozess hole vieles wieder hervor, lasse ihn das Grauen von Neuem durchleben. Es falle ihm schwer, dem Angeklagten ins Gesicht zu sehen. Er schlafe schlecht, spreche mit seiner Therapeutin über das Verfahren.
Dreimal fuhr das Messer des Angreifers, den er kurz bändigen konnte, in Kazems Körper, nachdem der Angreifer frei gekommen war. Kazem erlitt eine Stichverletzung im Bereich des oberen Rückens, sein linkes Schulterblatt wurde durchbohrt. Außerdem trug er zwei Stichwunden im Gesäß davon.
Im Oktober 2024 konnte er dann endlich wieder arbeiten gehen, doch dann der nächste Rückschlag während der Wiedereingliederung. Ein Arbeitsunfall, ein schwerer Sturz. Seitdem kann Kazem nicht mehr arbeiten gehen, sagt er. Er und seine Familie leben von ihren Ersparnissen.
Spendenkampagne
- Die Anwältin des Mannes hat einen Spendenaufruf für ihn gestartet, weitere Infos unter: https://gofund.me/07560411
- Er möchte aus Sicherheitsgründen nicht im Bild und mit seinem reellen Namen in den Medien erscheinen.
Und es gibt noch etwas anderes, das ihn schmerzt, sagt Kazem. Nach der Tat, da habe er nie Wertschätzung oder Anerkennung erfahren.
„Ich wollte, dass es anders ausgeht, dass ich ihn festhalte und es damit zu Ende ist“, sagt er. Aber so kam es nicht. Die Auswertung des Videos hat ergeben, dass es Kazem um 11:35:18 Uhr gelang, den rechten Arm des Angreifers zu fixieren, unterstützt von einem weiteren, herbeigeeilten Mann. Um 11:35:23 schlug der Passant zum ersten Mal auf ihn ein. Drei Sekunden später brachte Rouven Laur den Passanten zu Boden. Und drei Sekunden danach stach der Angreifer auf Rouven Laur ein.
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