Interview

Mutmaßliche Amokfahrt: „Es ist erstaunlich, wie manche ihre Empörung an- und ausknipsen können“

Thomas Hestermann forscht zur Gewaltberichterstattung in Medien. Ein Gespräch über inszenierte Empörung und Opfer, die oft nur tragische Randfiguren bleiben.

Von 
Agnes Polewka
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Die mutmaßliche Amokfahrt machte zunächst bundesweit Schlagzeilen, verschwand aber sehr schnell aus der Berichterstattung, nachdem klar war: Der mutmaßliche Täter ist Deutscher. © Michael Ruffler

Mannheim. Als am Rosenmontag, nur wenige Monate nach dem Messerattentat auf dem Mannheimer Marktplatz, erneut die Angst in der Stadt umging, strömten wieder Journalistinnen und Journalisten nach Mannheim. Doch diesmal verschwanden sie sehr schnell wieder. Nämlich, nachdem bekannt geworden war, dass der mutmaßliche Amokfahrer Deutscher ist. Thomas Hestermann forscht zu Gewaltberichterstattung und spricht im Interview über Zerrbilder und über Opfer von Straftaten, die viel zu selten in der öffentlichen Berichterstattung auftauchen.

Herr Hestermann, Mannheim ist innerhalb eines Jahres zwei Mal bundesweit in die Schlagzeilen geraten. Doch die mutmaßliche Amokfahrt ist – im Gegensatz zum Messerattentat – sehr schnell wieder aus den Schlagzeilen verschwunden, als bekannt wurde, dass der mutmaßliche Täter Deutscher ist. Wie kommt das?

Thomas Hestermann: Die Amokfahrt hat alle Elemente, die Menschen erschüttern. Doch weil ein Deutscher unter Tatverdacht steht, hielt die „Betroffenheitsarmada“ still, die sonst unverzüglich Trauermärsche organisiert und die Kommentarspalten flutet. Damit blieb auch die inszenierte Empörung aus, die in anderen Fällen wieder Stoff für die weitere Berichterstattung liefert.

Thomas Hestermann



Thomas Hestermann lehrt Journalismus an der Hochschule Macromedia in Hamburg. Zuvor arbeitete er als Reporter und TV-Journalist. Er forscht zu Gewaltberichterstattung in den Medien.

Inwiefern ist das neuer Trend?

Hestermann: Wir analysieren die Gewaltberichterstattung im deutschen Fernsehen seit 2007. Damit bildet sich die Fieberkurve der Gesellschaft ab. 2014 spielte die Nationalität der Tatverdächtigen kaum eine Rolle, in nicht einmal jedem 20. Beitrag wurde sie erwähnt. Deutschland zeigte Herz für Geflüchtete. Die Bildzeitung rief: „Refugees welcome!“ Dann markierte die Kölner Silvesternacht eine Zäsur. Der Anteil der Beiträge, in denen die Herkunft hervorgehoben wurde, stieg quer durch alle Medien an, und dabei betrug der Anteil ausländischer Tatverdächtiger mehr als 80 Prozent: Mehr als doppelt so viel wie in der Kriminalstatistik – die Gewalt deutscher Straftäter wird ausgeblendet. Seit 2019 erfassen wir auch die großen überregionalen Tageszeitungen, auch hier sieht es ganz ähnlich aus.

Beobachten Sie das auch bei regionalen Medien?

Hestermann: Ja, allerdings sehr unterschiedlich. So nennt die „Sächsische Zeitung“ bei Gewalttaten durchweg die Nationalität von Tatverdächtigen, soweit möglich. Damit sind dann nicht nur Ausländer im Blick und ist die Verzerrung geringer.

Und dies würden Sie allen Medien empfehlen? Und was noch?

Hestermann: Der Deutsche Presserat empfiehlt bei der Berichterstattung über Straftaten, dass die Herkunftsnennung bei Tatverdächtigen nicht zu einer „diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt“. Darum solle die Nationalität in der Regel nicht genannt werden. Das halte ich für richtig. Aber wenn man sie nennt, ist es unprofessionell, dies nur bei bestimmten Bevölkerungsgruppen zu tun.

Wenn allerdings bestimmte Bevölkerungsgruppen gehäuft am Pranger stehen, entsteht nicht mehr eine Großaufnahme des Besonderen, sondern ein Zerrbild.

Wie berichten Medien generell über Gewalt?

Hestermann: Medien heben das Besondere hervor. Die Gewaltberichterstattung beleuchtet drastische und seltene Delikte, also Mord und Totschlag, und kaum die sehr viel häufigere Wirtshausschlägerei. Das ist ein Lupen-Effekt. Wenn allerdings bestimmte Bevölkerungsgruppen gehäuft am Pranger stehen, entsteht nicht mehr eine Großaufnahme des Besonderen, sondern ein Zerrbild. Nach polizeilicher Erkenntnis greifen Deutsche und Ausländer in etwa gleich hoher Zahl mit Messern an. Nach unseren aktuellsten Zahlen kommt in Medienberichten aber auf 26 ausländische Messerangreifer ein einziger Deutscher.

Allerdings sind ausländische Tatverdächtige in der Polizeilichen Kriminalstatistik, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, deutlich überrepräsentiert.

Hestermann: Das ist richtig. Aber dies hat viele Gründe. Junge Männer in Städten werden deutlich häufiger straffällig als alte Frauen auf dem Land. Bei den hierzulande Lebenden hat unter denen unter 25 Jahren mehr als jeder Dritte einen Migrationshintergrund, bei denen über 55 nicht mal jeder Fünfte. 60 Prozent der jüngst Zugewanderten sind männlich. Dazu kommen weitere Faktoren wie Armut und Traumatisierung. Wenn Integration gelingt, gehen die Unterschiede gegen null.

Aber es lässt sich nicht leugnen, dass es eine Häufung ausländischer Verdächtiger bei den großen Verbrechen der vergangenen Monate gab. Davon zu sprechen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen gehäuft am Pranger stehen, greift da dann doch zu kurz?

Hestermann: Einspruch! Dies hat etwas mit verzerrter Wahrnehmung zu tun, wie unsere Langzeitanalyse seit 2007 zeigt. Man stelle sich folgenden Fall vor: Nachdem ihn seine Frau verlassen hat, bewaffnet sich ein 33-jähriger Afghane mit einem halbautomatischen Gewehr und rund 200 Schuss Munition. Er erschießt den neuen Partner seiner Ex-Frau und drei weitere Menschen, darunter ein dreijähriges Mädchen. Im Prozess wird deutlich, wie sehr ihn seine militärische Ausbildung beim „Islamischen Staat“ geprägt hat. Routiniert wie bei einem Häuserkampf habe er getötet. Wäre es so gewesen, hätten Politmagazine wohl aufgemacht mit der tödlichen Schattenarmee, die in Deutschland bislang unbemerkt wüte. Bundestagsdebatten, Trauerzüge, der Aufschrei wäre nicht zu überhören gewesen. Doch der Fall, vor wenigen Tagen abgeurteilt, wurde vergleichsweise wenig wahrgenommen. Denn der Täter war kein Afghane, sondern ein Deutscher und ehemals Bundeswehrsoldat.

Die demokratische Mitte hält eher still, die Empörten sind laut.

Inwiefern sorgen die Taten der vergangenen Monate und die von ihnen angesprochene veränderte Berichterstattung auf die Stimmung in der Gesellschaft aus?

Hestermann: Sie führt zu mehr Misstrauen und Furcht. Ich bekomme viele Zuschriften von sogenannten „besorgten Bürgern“, die schreiben: Früher konnte man noch nachts im Park spazieren, heute bekommen wir Zustände wie in südafrikanischen Townships. Doch die Polizeistatistiken zeigen ein völlig anderes Bild: Das persönliche Risiko, Opfer einer Gewalttat zu werden, ist in den letzten zehn Jahren recht konstant. Die starke Einwanderung 2015/16 hat daran nichts geändert. Aber es fühlt sich für manche anders an. Auch weil es Interessensgruppen gibt, die sehr viel dafür tun, dass es sich anders anfühlt. Am Ende des Tages wirken sich die Angstkampagnen stärker aus als Fakten.

Sie haben eingangs bereits die sogenannte „Betroffenheitsarmada“ thematisiert. In einem Interview mit der Zeit haben Sie gesagt: „Der Journalismus hat sich in den vergangenen Jahren von der AfD treiben lassen“ – wie meinen Sie das?

Hestermann: 2018 haben wir untersucht, welches Bild die AfD in ihren Mitteilungen von Kriminalität zeichnet. In jedem zweiten Text wurde die Herkunft genannt, dabei waren die Tatverdächtigen zu 95 Prozent Ausländer. Darunter übrigens kein einziger Russe. Das war keine Überraschung, denn Angst ist das Geschäftsmodell der AfD, generiert Klicks, Quoten und Wählerstimmen. Überrascht hat uns allerdings, dass in den großen Tageszeitungen die Zahlen fast exakt gleich waren, in deren Gewaltberichten betrug der Ausländeranteil 93,5 Prozent.

Und wie erklären Sie sich das?

Hestermann: Vielfach wird ja Journalistinnen und Journalisten nachgesagt, sie wählten eher links und würden auch so berichten. Tatsächlich folgen sie rechtspopulistischen Mustern, wenn sie Gewalt darstellen, vielfach eher unabsichtlich, denn sie müssen unter Zeitdruck schnell und intuitiv entscheiden. Zu erklären ist dies mit dem enormen Druck, der aufgebaut wurde. Vorwürfe wie „Lügenpresse“ oder „Lückenpresse“ schmerzen. Die demokratische Mitte hält eher still, die Empörten sind laut. Mit viel Lautstärke dringen sie darauf, dass man die Nationalität von Tatverdächtigen nennen muss. Oder, wie ein Polizeisprecher mal sagte, am liebsten gleich den kompletten Ariernachweis liefern. Man stelle sich mal eine Schlagzeile vor wie: „Katholik erschlägt seine Frau“. Da würden viele sagen, die Redaktion hat nicht alle Tassen im Schrank. Dabei erklärt weder die Religion noch die Staatsangehörigkeit eine Tat. Kein Mensch wird zum Täter, weil er einen afghanischen, deutschen oder russischen Pass hat.

Wie halten die Journalistinnen und Journalisten es mit politisch motivierten Taten?

Hestermann: Es wird schnell nach einer Einordnung gesucht. Die einzelne Tat, die sich in etwas Größeres einfügt, gewinnt scheinbar an Relevanz. In der aktuellen Berichterstattung lassen sich aber Zusammenhänge nicht so schnell nachweisen.

Und noch eine Frage zu den Opfern von Verbrechen: Nach dem Mannheimer Messerattentat ist Rouven Laur sehr schnell zu einer Person der Zeitgeschichte geworden. Doch die Opfer vom Rosenmontag sind bislang tragische Randfiguren geblieben. Was sind Ihre Gedanken dazu?

Hestermann: Der gewaltsame Tod von Rouven Laur ist so erschütternd, weil er als Polizist mit Herz und Verstand für das Gemeinwesen, für uns alle eingetreten ist. Der Arabisch lernte, um Offenheit zu zeigen auch gegenüber denen, die sich ausgegrenzt sehen. Umso tragischer ist, wenn sein Tod von Interessensgruppen gerade im Kampf gegen Mitgefühl und Offenheit vereinnahmt wird. Es ist erstaunlich, wie manche ihre Empörung über Gewalt an- und ausknipsen können, je nachdem, ob der mutmaßliche Täter ausländischer Herkunft ist oder nicht.

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Opfer stehen vielfach am Rand, dabei ist jeder Mensch einzigartig. Ich habe für ein Buch mit vielen Menschen gesprochen, die Geiseln waren, beraubt oder niedergeschlagen wurden. Sie haben alle etwas Ähnliches gesagt: Die Erfahrung von Gewalt war schlimm, aber die konnten sie mehr oder weniger gut wieder aus ihrem Leben zurückdrängen. Hilfreich war dabei, wenn das Umfeld verständnisvoll reagierte. Das erleben wir in der hitzigen Debatte über Verbrechen aber immer seltener. Stattdessen werden Opfer werden immer öfter ignoriert, sie werden allenfalls als Fallbeispiele missbraucht. Es geht fast ausschließlich um die Tatverdächtigen.

Wie sieht eine idealtypische Berichterstattung mit Blick auf die Menschen aus, denen Schlimmes widerfahren ist?

Hestermann: Es ist wichtig, die Geschichte aller Tatbeteiligten zu erzählen. Reporter, die auf Verbrechensopfer zugehen, sollten sich behutsam vorantasten und sich Zeit dafür nehmen. Was die Tatverdächtigen angeht: Kein Zerrbild erzeugen, also beispielsweise die Nationalität gar nicht erwähnen oder wenn, dann ausgewogen.

Insgesamt aber, wo bleibt das Positive? Es war ja in Mannheim ein Mann pakistanischer Herkunft, der mutig eingeschritten und Menschenleben gerettet hat. Es wäre schön, nicht nur über das Scheitern, sondern mehr über das häufige Gelingen von Integration zu berichten.

Redaktion

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