Mannheim. „Es gibt genau eine Ansage: Greifst du die Waffe, dann schießen wir“, schreit ein Polizeibeamter. Er atmet schnell. Seine Bodycam zeichnet jeden seiner Schritte auf, jeden seiner Sätze. Am Freitag sind die Aufnahmen im größten Sitzungsaal des Mannheimer Landgerichts zu sehen. Der Polizeibeamte auf dem Video wechselt ins Englische: „If you grab it, I will shoot you.“
Es ist der erste Tag im Prozess gegen den mutmaßlichen Amokfahrer vom Rosenmontag. Er soll am 3. März mit seinem Wagen in Mannheim zwei Menschen getötet und 14 weitere verletzt haben, fünf von ihnen schwer. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm unter anderem Mord, versuchten Mord und gefährliche Körperverletzung vor.
Zu Beginn des Verfahrens rekonstruiert Oberstaatsanwältin Jeanette Zipperer die Tat, wie sie sich nach Ansicht der Staatsanwaltschaft zugetragen hat – mit all ihren brutalen Details. Sie beschreibt zunächst, wie der Angeklagte Alexander S. um 12.14 Uhr an einer roten Ampel am Friedrichsring auf Höhe des Wasserturms gestanden habe. Während der 40-Jährige an der Ampel wartete, aktualisierte er laut Staatsanwaltschaft seinen WhatsApp-Status. Darin soll er den Link zu einem Rammstein-Song gepostet haben, der Titel: „Feuer frei“.
Oberstaatsanwältin rekonstruiert Ablauf der Mannheimer Amokfahrt
Dann skizziert die Oberstaatsanwältin die Fahrt über die Planken, mit ihren Verletzten und den beiden Toten: Ein 54-jähriger Mann aus Buchen und eine 83-jährige Frau aus Mannheim starben noch an der Unfallstelle.
Der 54-Jährige sei auf Höhe des Modehauses Engelhorn erfasst worden, sagt die Oberstaatsanwältin. Er sei mehrere Meter durch die Luft geschleudert worden und kurz vor der Haltestelle Strohmarkt auf eine Frau gefallen, die dort gestanden habe. Der Mann wurde so schwer verletzt, dass er kurze Zeit später noch an der Unfallstelle starb. Die Frau, auf die er fiel, trug laut Staatsanwaltschaft eine Beule davon.
Die 83-Jährige starb auf dem Paradeplatz. Alexander S. soll sie und ihre Begleiterin erfasst haben, während beide Frauen „sorglos flanierten“. Der Seniorin wurden bei dem Zusammenstoß laut Staatsanwaltschaft beide Unterschenkel abgetrennt. Weitere Details zu den schweren Verletzungen der Frau veröffentlicht diese Redaktion aus Gründen des Opferschutzes nicht.
Ihre Begleiterin erlitt laut Anklage mehrere Frakturen, sie tritt in dem Verfahren neben drei anderen Opfern der Tat als Nebenklägerin auf. Unter ihnen sind zwei weitere Fußgängerinnen, die schwer verletzt worden sind, sowie der Taxifahrer, dem es gelang, den Amokfahrer zu stoppen. Am ersten Prozesstag sitzen ihre Anwälte zwischen der Oberstaatsanwältin und dem Psychiatrischen Sachverständigen. Von den Nebenklägern ist heute niemand selbst im Gericht erschienen. „Meine Mandantin wollte heute eigentlich kommen, aber sie hat schließlich entschieden: Sie schafft es nicht, diesem Menschen ins Gesicht zu schauen“, sagt Rechtsanwalt Thomas Franz aus Ketsch nach der Anklageverlesung in einer Pause vor den Kameras der Journalisten.
Mannheimer Amokfahrt: Bodycam dokumentiert die Festnahme des Angeklagten
Im Hafengebiet konnte die Polizei Alexander S. schließlich in die Enge treiben. Diesen Moment hat die Bodycam eines Polizisten eingefangen. Während die Videoaufnahme auf der Großleinwand im Gerichtssaal zu sehen ist, sitzt der Beamte im Zeugenstand. „Hände hinter den Kopf“, brüllt er auf dem Video. Dann spricht er über Funk mit den Kollegen. „Wir wissen nicht, ob er weitere Waffen bei sich hat, wir sind direkt am Fluss“, sagt er. Er wendet sich wieder an den Mann, der vor ihm in der Mulde eines Krans kauert. Auf dem Bildausschnitt der Bodycam ist er nicht zu sehen. „Hast du weitere Waffen?“, fragt er. „Hör mal zu, wir wollen nicht schießen“, sagt er. Und danach: „Nein, ich schieße dir nicht in den Kopf.“ Im Hintergrund sind Polizeisirenen zu hören.
Vor Gericht spricht der Polizist darüber, dass Alexander S. ihn aufgefordert habe, ihn zu töten. Der intensive Blick des Angeklagten ruht auf dem Beamten. Regungslos verfolgt er den Gang des Verfahrens.
Nach dem Beamten betritt sein Kollege den Sitzungssaal. Und beschreibt, wie schwer es den Polizisten fiel, sich im Hafengebiet zu orientieren und den Kollegen, die zur Verstärkung unterwegs waren, ihre exakte Position durchzugeben. Danach sprechen drei weitere Polizeibeamte über den Moment der Festnahme, wie sie Alexander S. aus der Mulde bugsierten, seine Hände und Füße fixierten. Sie brachten ihn in die stabile Seitenlange und warteten auf einen Rettungswagen. „An diesem Tag waren Rettungswagen Mangelware“, sagt einer der Beamten.
Der starre Blick des Angeklagten ist allen von ihnen in Erinnerung geblieben. Einer von ihnen sagte bei der Vernehmung nach der Tat, der Amokfahrer habe auf ihn wie jemand gewirkt, der von einem Dämon besessen gewesen sei. Ein anderer Beamter sagt vor Gericht, Alexander S. habe ihn „mit schwarzen Zähnen angeknurrt“. Der mutmaßliche Täter schoss sich kurz nach der Amokfahrt mit einer Schreckschusspistole in den Mund, um sich selbst zu töten. Auf dem Boden liegend soll er nach seiner Festnahme geflüstert haben: „So ist die Welt nicht.“
Die Stimme des Angeklagten, die mehr ein Krächzen als ein Hauchen ist, ist an diesem Prozesstag nur kurz ganz zu Beginn des Prozesses zu hören, als der Vorsitzende Richter ihn nach seinen Personalien fragt. Was er zu der Tat zu sagen hat, lässt S. über seinen Verteidiger verlauten, der nach der Anklageverlesung eine Erklärung für seinen Mandanten abgibt.
Sinngemäß lässt sich diese folgendermaßen zusammenfassen: Alexander S. bestreite den Tatablauf nicht und erkenne an, was er getan habe. Am Samstag vor der Tat habe er erstmals darüber nachgedacht, eine Amoktat zu begehen, begleitet von starker Gefühlen: Wut und Selbstzweifeln. Die Idee habe ihn den Sonntag über weiterbeschäftigt. Er habe darüber nachgedacht, nach Offenbach zu fahren, wo sein Vater lebt. Dort habe er die Tat begehen wollen. Am Montag sei er in Mannheim gewesen, wo ihn die spontane Idee übermannt habe, über die Planken zu rasen – um sich und andere zu töten. Er habe eine seelische Krise durchlebt, seine Steuerungsfähigkeit sei stark eingeschränkt gewesen.
Angeklagter spricht nach der Tat mit Beamten über sein Motiv
Ein Polizeibeamter, der Alexander S. mit einer Kollegin ins Theresienkrankenhaus begleitete, spricht am Ende des ersten Prozesstages über die Stunden nach der Tat. Alexander S. habe sich mit den Ärzten unterhalten und dann begonnen, über sein Motiv zu sprechen. Er habe es im Leben nicht leicht gehabt, Alkohol, Drogen und Gewalt hätten sich durchgezogen. Auch soll er den Beamten berichtet haben, dass er wegen einer psychischen Erkrankung in Behandlung sei. Durch den Verlust seines Jobs habe er allerdings auch seine Krankenversicherung verloren und die Medikamente seien ihm ausgegangen. „Er hat gesagt, in einer Überreaktion wären ihm die Sicherungen durchgebrannt“, sagt der Polizist. Alles sei so schwierig gewesen, die Tat eine fast schon zwingende Reaktion. Und: „Er sagte, es täte ihm leid um die Leute, die verletzt oder getötet wurden.“
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